Zur Wertedebatte
Frieden durch Integration
"Wertedebatte" ist das Motto unserer Tage. Wertedebatten werden geführt, wenn eine Gesellschaft sich ihrer eigenen Werte nicht mehr sicher ist, wenn das Fundament, auf dem sie steht, zu wackeln beginnt. Ein zentraler Wert des demokratischen Rechtstaats scheint mir heute besonders gefährdet, jener der Religionsfreiheit. Darüber nachzudenken, ist in Zeiten von Minarett- und Burkaverboten dringlich.
Sieben Jahre nach der Abstimmung über das Minarettverbot soll in der Schweiz ein Burkaverbot eingeführt werden, ein Kopftuchverbot wird offenbar folgen.
Mit dem Slogan „Wehret den Anfängen“ soll durch die Verbote eine erste Schlacht gegen die „Ungläubigen“ gewonnen werden. Man will die Probleme lösen, bevor sie entstehen: Wir weisen die Muslime in die Schranken, bevor sie den Muezzin ausrufen lassen, Allah sei gross.
Aus der Geschichte nichts gelernt
Das gegenseitige in die Schranken weisen einzelner Religionsgemeinschaften hat immer und überall zu sozialem Unfrieden geführt.
Im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts entstanden religiöse Ausnahmeartikel wie beispielsweise das „Jesuitenverbot“ oder das Verbot, neue Bistümer ohne staatliche Genehmigung zu schaffen. Mit diesen Ausnahmeartikeln wurde eine religiöse Gemeinschaft in ihren Grundrechten beschnitten. Und diese Beschneidung löste automatisch sozialen Unfrieden aus. Wut und Ohnmacht herrschten. Dem Streichen der Ausnahmeartikel gingen jahrzehntelange Kämpfe voraus. Bis endlich 1973 und 2001 die religiösen Ausnahmeartikel aus der Verfassung entfernt wurden. Die Schweiz bekannte sich auch auf dem Papier zum religiösen Frieden.
Die Schweiz als Vorbild
Den religiösen Frieden können wir nur bewahren, wenn verschiedene Religionen ihr Recht auf Religionsfreiheit wahrnehmen können, ohne damit gängiges Recht zu verletzen.
Die Schweiz ist diesbezüglich ein Vorbild. Ein Beispiel: Als Schülerin der Kantonsschule Hohe Promenade erlebte ich in der ersten Gymnasialklasse, wie ein jüdischer Kollege Samstags in der Schule fehlte und wie er selbstverständlich die Kippa im Unterricht getragen hat. Niemand verlangte ein Verbot der Kopfbedeckung. Mit Augenmass und direkten Gesprächen konnten Konflikte aus dem Weg geräumt werden. Es gelang, den Glaubensanliegen von Minderheiten Rechnung zu tragen, ohne von wesentlichen Schulforderungen abzurücken und ohne den Religionsfrieden zu gefährden.
Religionsfreiheit ist durch die Verfassung geschützt
Fragen der Religionsfreiheit lassen sich nicht mit dem Holzhammer beantworten. Sie unterstehen differenzierten Abwägungsprozessen, die sowohl rechtlicher als auch politischer Natur sind.
Unsere Verfassung garantiert uns ein Leben in Freiheit. Anders als beispielsweise in Saudi-Arabien, wo das Gesetz die Religion vorschreibt. Was in Saudi-Arabien geschieht, lehnen wir ab. Dass unsere Verfassung mit einem Ausnahmeartikel die Religionsfreiheit nicht mehr garantiert, ist aber ein erster Schritt in diese Richtung.
Als Politikerin bin ich dafür zuständig, dass Demokratie und Rechtsstaat nicht aus dem Gleichgewicht geraten. Der Ausnahmeartikel Minarettverbot hat ein klares Ungleichgewicht erzeugt. Dasselbe würde mit dem Burkaverbot geschehen, weshalb ich es klar ablehne.
Christlich
Am Anfang des Christentums hofften gläubige Juden, der Mann aus Nazareth würde sich am Kampf gegen die „ungläubigen“ Römer beteiligen. Doch dieser wehrte sich nicht. Im Gegenteil: Er wanderte durchs Land und half kampflos: Den Zöllnern, den Prostituierten, den Aussätzigen, den Frauen, den Trauernden oder den Sterbenden. Diese Hilfe bot er allen an, seien sie nun Juden, Pharisäer, Heiden, oder eben…- verhasste Römer.
Würde man diese Geschichte heute erzählen, dann besuchte der Nazarener wahrscheinlich verschiedene Flüchtlingslager, den betrunkenen Bettler, die Frauen auf dem Strassenstrich, zahlreiche Aidskranke und nicht zuletzt auch…- verachtete Muslime. Er hat die Menschen nie nach ihrer Religionszugehörigkeit beurteilt. Sein Gebot der Nächstenliebe galt für alle.
Missbrauch von Religion
Bei Debatten über unseren Umgang mit dem Islam erhalte ich jeweils Drohbriefe, wobei meist Texte über den „Islam“ beigelegt werden. Texte aus dem Buch „Motive islamischer Terroristen“, Auszüge aus dem Koran oder der Koran selber; alles flattert in unser Haus, stets mit dem süffisanten Kommentar, als Christin könne man offenbar äusserst naiv sein. Gefährlich naiv.
Sei es die Tora, die Bibel oder der Koran: Alle Bücher weisen Stellen auf, die – aus dem Kontext gerissen – vollkommen missverständliche Interpretationen zulassen. Und in allen Schriften gibt es befremdliche und fragwürdige Stellen.
Wer sich ein Bild über Religionen machen will, sollte sich das Wissen nicht nur aus Text-Fragmenten oder TV-Talkshows, sondern auch und vor allem aus dem direkten Kontakt mit gläubigen Menschen aneignen. Jede Religion wurde und wird missbraucht.
Als Legitimation für die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA wurde eine Weltreligion missbraucht. Diese Anschläge dürfen aber nicht dazu dienen, sich ein Bild von Muslimen zu machen, die ihren Glauben nach bestem Wissen und Gewissen leben. Auch die Kreuzzüge dürfen nicht dazu missbraucht werden, um über den Gehalt der christlichen Religion zu urteilen. Ich kenne Musliminnen und Muslime, die während des Ramadans positive Kräfte für weitere Lebensabschnitte sammeln, vor Glück strahlen und mich aufrichten. Ich habe einen Rabbiner beim Gebet gesehen, der einen Frieden ausstrahlte, wie ich das bei Religionsführern anderer Gemeinschaften noch nie gesehen habe. Und ich kenne Christinnen und Christen, die mit ihrem Glauben Berge versetzen.
Assimilation versus Integration
Es ist richtig und wichtig, dass die CVP Schweiz die Diskussion über den Umgang mit religiösen Minderheiten anregt und vertieft. Die Diskussion darf sich aber nicht über eine Burkadebatte oder gar eine Kopftuchverbotsdebatte führen .
Die Ziele der Burkadebatte sind nicht redlich: Es geht um einen Ausschluss von Muslimen aus unserer Gesellschaft, oder aber ihre vollständige Assimilation. Assimilation bedeutet „aufgehen in der Gruppe“. Was wir aber fordern und fördern sollten, ist die Integration in eine freiheitliche Gesellschaft, in welcher die Rechtsordnung respektiert wird, in welcher wir wirtschaftlich unabhängig leben, in welcher wir die übliche Sprache sprechen und in welchen wir soziale Kontakte pflegen. Eine vollständige Angleichung an eine vermeintliche Mehrheitskultur kann nicht das Ziel sein.