Von der Pflicht zum Helfen
Liebe Bewohnerinnen und Bewohner von Greifensee und Rümlang Liebe Gäste, Liebe Kinder Es ist mir eine grosse Freude, den Nationalfeiertag unseres Landes mit Ihnen zusammen feiern zu dürfen. Die Feier eines Geburtstags ist immer ein wichtiger Schwerpunkt, ein wichtiges Ritual in einem Menschleben, egal, ob wir nun hoffnungsfroh oder sorgenvoll dem nächsten Lebensjahr entgegenblicken. Ein Geburtstagsfest ist auch ein wichtiger Markstein im Leben einer Nation. Das Ritual der 1.-August Feier gibt uns Gelegenheit, uns über uns selber Gedanken zu machen. Tun wir es auch heute, am 723. Geburtstag der Eidgenossenschaft. Doch bevor wir den heutigen Festtag mit Singen, Feuerwerken und Lampiontragen begehen, möchte ich Ihnen eine kurze Geschichte erzählen: Der Nothelfer Vor 1700 Jahren lebte ein Mann, der an einem bitterkalten Wintertag auf seinem Pferd auf das Stadttor zuritt. Die Winter damals waren hart, viele Menschen litten unter der klirrenden Kälte oder fielen ihr gar zum Opfer. Dem Mann auf seinem Pferd wankte ein Bettler entgegen. Dieser war fast unbekleidet und flehte die vorübereilenden Leute an, ihm doch zu helfen. Doch niemand half. Alle schauten weg. Nur unser Mann empfand tiefes Mitgefühl mit dem Bettler. Er nahm sein Schwert und teilte seinen warmen Umhang in zwei gleiche Hälften. Dankbar nahm der Bettler das halbe Mantelstück entgegen und schlang es sich um den mageren, ausgekühlten Körper. Einige Leute waren stehen geblieben und machten sich lustig darüber, dass der Reiter mit dem halben Mantel nun selber aussah wie ein Bettler. Andere, die viel mehr hätten geben können als nur einen Mantelteil, waren beschämt über die Tat des Nothelfers. Der Symbolwert unserer alten 100er-Note Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte? Weil dieser Mann – sein Name war Martin – von 1956 bis 1976 auf unserer Schweizer 100er-Note abgedruckt war: Die Banknote erzählt von den Taten dieses Helfers in der Not, dessen Geschichte längst berühmt geworden ist. Als Rotkreuzpräsidentin interessiert mich diese Geschichte ganz besonders. Ihr Inhalt ist Bestandteil der Grundsätze der Rotkreuzbewegung: Diese Banknote ist die Aufforderung, beim Geldausgeben auch an die Not der anderen zu denken: Es entspricht dem Schweizer Geist, bei allem Wohlstand auch Demut und Bescheidenheit walten zu lassen. Laut NZZ-Archiv weist die Hunderter-Note auch darauf hin, dass die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben in unserem Land die gegenseitige Hilfe ist. Mein Lieblingspolitiker, der Deutsche Heiner Geissler, geht sogar noch weiter. Er sagt: Helfen ist unsere Pflicht! Schweizer Werte und Schweizer Probleme Meine Damen und Herren: Viele meinen, in der Schweiz sei es unruhig geworden. Obwohl es uns eigentlich sehr gut geht, sind viele Menschen verunsichert, ja gar verängstigt: Sie misstrauen „denen da oben in Bern“, sie stimmen nur noch ab, um „Zeichen zu setzen“, sie schimpfen über die Jugend, die Ausländer, den Dichtestress, über Europa, ja sogar über fussballspielende Nachbarskinder, wenn diese wieder einmal die vermeintlich wohlverdiente Ruhe stören. Was ist eigentlich los? Sicher sind nicht wenige Menschen verunsichert, weil ihnen die Globalisierung Angst macht. Viele haben Angst vor weltweiten Gesetzen und Regulierungen, vor Europäischen Abkommen und internationalen Vereinbarungen. Viele suchen deshalb ihr Heil in Schweizer Werten oder in dem, was sie dafür halten. Das ist an sich nicht falsch. Aber wir müssen dafür sorgen, dass sie die richtigen Werte finden und die wahren Schweizer Tugenden pflegen, so zum Beispiel Weltoffenheit oder Hilfsbereitschaft, wie sie unser Martin vorgelebt hat, aber auch bereits vom Gründer des Roten Kreuzes, Henry Dunant, gefordert wurde. Weltweites Symbol dieser Offenheit und Hilfsbereitschaft ist immerhin das farblich umgedrehte Schweizer Wappen! Aus diesem Gedanken heraus ist auch die europäische Menschenrechtskonvention entstanden, ein Grundpfeiler unseres heutigen Zusammenlebens. Schweizer Werte und Tugenden sind mehr als die Folklore, obwohl diese sehr dazu beiträgt, die Werte und Tugenden zu pflegen: Sie sind das, was hinter unserem weltweit anerkannten Symbol der Schweizer Fahne steht: Zuverlässigkeit, Dienstbarkeit, Offenheit für alle Seiten. Sie bedeuten aber auch humanitäres Gedankengut. Wie geht es uns dabei, wenn wieder 30 Flüchtlinge im Meer ertrunken sind? Ist es nicht die Pflicht einer humanitären Schweiz, diese Thematik besonders aktiv anzugehen? Für mich sind Schweizer Werte Frieden, Demokratie, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Schutz der Natur, Armutsbekämpfung und die humanitäre Hilfe, die vor 150 Jahren in Genf «erfunden» wurde, auch das sage ich besonders gerne als Rotkreuzpräsidentin. Die Humanitäre Hilfe ist das, was die Schweiz seit langer Zeit berühmt und angesehen macht. Ob rot-weiss oder weiss-rot: Das Schweizer Kreuz ist weltweites Symbol dafür. Dessen dürfen wir uns rühmen – und dessen müssen wir uns heute wieder viel mehr bewusst sein. Was sind unsere wahren nationalen Herausforderungen?
Die Probleme, die wahren Herausforderungen, denen wir uns zu stellen haben, sind andere. Vier Punkte möchte ich nennen: 1. In der Schweiz leben immer mehr Superreiche, die noch reicher werden, und in der Schweiz leben immer mehr Arme, die noch ärmer werden. Die Schere zwischen Armen und Reichen öffnet sich kontinuierlich. Das gefährdet in zunehmendem Mass unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ist es nun ein Schweizer Wert, zu behaupten, die Armen seien selber Schuld, oder wäre es nicht dienlicher, den Armen zu helfen, so wie dies Martin tat, der Helfer in der Not? Die Schweiz, liebe Festgemeinde, die Schweiz galt bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts als „Armenhaus Europas“. Allein zwischen 1850 und 1860 wanderten rund 50‘000 Schweizer Bürgerinnen und Bürger aus purer Not nach Übersee aus. Die Armut gehörte einst zur Schweiz wie die Berge. Unsere Auswanderer suchten nichts anderes, als eine Grundlage, um ihr Leben würdig bestreiten zu können. Sie würden heute als Wirtschaftsflüchtlinge verunglimpft. Das alles sollten wir nicht vergessen. Und wir sollten uns gelegentlich auch in Erinnerung rufen, dass es die Uhrenindustrie, die Schweizer Schokolade, der Maschinenbau oder das Bankenwesen – alles Säulen unseres wirtschaftlichen Aufschwungs – ohne die Aufnahme hugenottischer Flüchtlinge vor rund 300 Jahren evtl. gar nicht gegeben hätte. Jedenfalls nicht in dem Ausmass, das uns unseren heutigen Wohlstand ermöglicht. Warum aber ist heute so schwierig, sich auch zu dieser Schweizer Geschichte zu bekennen? Dabei liegt die Solidarität, die gegenseitige Hilfe, auch schon dem Bundesbrief von 1291 zugrunde. Vielleicht, weil wir – und das ist die zweite grosse Herausforderung: Weil wir 2. in einem Zeitalter des zunehmenden Egoismus leben, in der jeder und jede sozusagen ohne Rücksichten die eigene Karriere und den schnellen Reichtum anstrebt, ohne zurückzuschauen, wem er oder sie das zu verdanken hat. Die Kosten und Schäden davon trägt dann wieder die Gesellschaft: Durch erhöhte Gesundheitskosten, zerbrechende Familienstrukturen, usw. Der Staat soll’s richten, und das möglichst gratis. Und das bringt mich zur 3. Herausforderung: 3. Wir leben in einer Zeit einer drohenden institutionalisierten Verantwortungslosigkeit. Verantwortung für die Gesellschaft haben immer nur die anderen, so scheint es. Die grossen Wirtschaftsführer rechtfertigen regelmässig ihre viel zu hohen Löhne mit ihrer grossen Verantwortung, die sie zu tragen hätten. Gilt es dann aber, sich dieser Verantwortung tatsächlich zu stellen, - Stichwort: Bussen im Milliardenhöhen – schleichen sie sich davon und wollen von allem nichts mitbekommen haben. Das ist mit ein Grund – ein entscheidender sogar –, weshalb der sog. Wirtschaftselite nicht mehr geglaubt wird, wie das in den Abstimmungen der letzten Zeit immer häufiger zum Ausdruck kam. Und das Pendel dann allzu stark in die andere Richtung zurückschlägt, in Richtung Abschottung. Damit zusammen geht die 4. grosse Herausforderung: die gesellschaftliche Entfremdung. Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen drohen sich immer mehr als Konkurrenz zu verstehen, anstatt als Schicksalsgemeinschaft: Die Singles, die Familien, die Jungen, die Alten, die Neutralen, die Politiker, die Banker, was auch immer. Die Gegenseitige Kritik ist härter geworden, die Bereitschaft zum Kompromiss kleiner, die Konsensfähigkeit oft sehr bemühend, wenn nicht sogar unmöglich. Und dies – meine Damen und Herren – trifft dann tatsächlich ins Mark unserer zentralen Schweizer Werte! Deshalb zurück zur alten 100er-Note: Zeichen des Wohlstands, aber auch Symbol für die Pflicht zum Teilen Ein Mitglied des IKRK-Führungsgremiums vor hat kurzem gesagt, dass, wer damals eine 100er-Note ausgegeben habe, gleichzeitig dazu ermuntert worden sei, ein Nothelfer zu sein und sein Geld zu teilen – auch dann, wenn er es für einen Ferrari ausgab. Heute – so der IKRK-Vertreter - würde schamlos bedeutend mehr Geld ausgegeben, ohne Rücksicht auf Inhalte und Werte und ohne zu bedenken, dass andere Menschen Geld, Unterstützung, dringend nötig hätten. Der Helfer in der Not muss uns ein Vorbild sein. Wer spielt diese Rolle in unserer heutigen Gesellschaft? Wer ist der Träger der helvetischen Tugenden und Werte? Mit der neuen 100er-Note verschwand der Martin aus unserem Portemonnaie - und mit ihm sein Geist. Wir können jetzt wieder ohne schlechtes Gewissen die Hunderter hinblättern. Heiner Geissler, heute ein alter Mann, reist von Vortrag zu Vortrag und endet mit dem immer gleichen Satz: Wir haben die Pflicht zu teilen. Es gibt nämlich genug Geld, es ist nur schlecht verteilt. Damit wird auch gesagt: Hilfe zur Selbsthilfe gehört zu den Pflichten von uns allen. Doch wenn Helfen unsere Pflicht ist, dann kann das realistischerweise nicht an den Armen hängen. Und die allzu Reiche tun es bekanntlich oftmals eben aus egoistischen Gründen nicht. Der Ausbruch der Finanzkrise hat weltweit gezeigt, wie rasch Reichtum korrumpiert und die Gesellschaft aushöhlt. Es sind nicht die, die am meisten zusammenraffen, die anderen helfen. Es sind vielmehr paradoxerweise jene, die selber auch nicht immer auf Rosen gebettet sind, die an die noch weniger Bemittelnden denken. So gesehen ist der Mittelstand gesellschaftlich gesehen der Träger der Solidarität. Der Mittelstand ist dort, wo eine Familie ohne grosse Subvention und soziale Unterstützungsgelder auskommen muss, um am Ende des Monats noch genug übrig zu haben für die Entfaltung der Gemeinschaft. Das trifft auf den grössten Teil unserer Bevölkerung zu. Der Mittelstand ist deshalb auch der hauptsächliche Träger der helvetischen Tugenden und Werte. Ihm müssen wir daher besonders Sorge tragen. Optimistisch in die Zukunft schauen Ich möchte optimistisch in die Zukunft schauen: Wir können das Ruder in die Hand nehmen, das Steuer herumreissen. Doch wir sind alle gefordert: Als Politikerin muss ich schauen, dass die Rahmenbedingungen so gesteckt sind, dass es keine allzu grossen Verlierer gibt, dass der Markt dem Menschen dient und nicht der Mensch dem Markt, dass Arbeitgebende und Arbeitnehmende zusammen arbeiten und, dass die Politik wieder in der Lage ist, sich gegen Profitinteressen Einzelner durchzusetzen. Und Sie, liebe Anwesende, können ebenfalls dazu beitragen: Kämpfen wir gemeinsam für eine menschliche Welt! Machen wir es wie Martin: helfen wir nicht nur denen, die wir mögen. Gemäss Verfassung muss jeder Mensch geachtet werden, so wie er oder sie lebt und steht. Der Mensch darf nicht zum Kostenfaktor reduziert werden. Der Mensch ist Teil der Gesellschaft, in der alle zueinander Sorge tragen müssen. So, wie übrigens vor 723 Jahren auf dem Rütli beschworen. In diesem Sinne gratuliere ich heute Ihnen und mir zum Geburtstag unseres Landes und ich wünsche uns allen ein schönes Fest. Es gilt das gesprochene Wort
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Juni 2023
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