Dies Academicus Theologische Hochschule Chur, Festvortrag
24. Oktober 2022 Barbara Schmid-Federer, Präsidentin SRK Einleitung Am 25. Juni 1859 beleuchtete die Sonne eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken lässt. «Das Schlachtfeld von Solferino war allerorten bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden.» Mit diesen Worten beschrieb der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant seine Erlebnisse in Solferino, wo am Abend zuvor die Armeen Frankreichs, Sardiniens und Österreichs aufeinandergeprallt waren. Es herrschte Krieg in Europa. Dunant war betroffen, er war erschüttert von dem, was er sah. Er vergass seine Reisepläne, suchte Freiwillige und half, ohne zu fragen, wem. Diese Tat, diese gelebte Menschlichkeit wurde zum Grundstein für das Handeln von heute 80 Mio. Mitgliedern und Freiwilligen weltweit, die im Namen des Roten Kreuzes das Erbe Dunants weitertragen. Dunant wurde – auf Drängen der Baronin von Suttner - zum ersten Träger des Friedensnobelpreises überhaupt. Allerdings: Dunant als Person hat sich mit seiner Heldentat in Solferino – so stellte sich später heraus – nicht nur seine berufliche Karriere verdorben; der Kaufmann aus gutem Hause stürzte in späteren Jahren sowohl wirtschaftlich wie auch gesellschaftlich tief; ein hoher Preis für eine explizite Hinwendung zu Mitmenschen im Sinne der Diakonie oder im Sinne der Nächstenliebe, der Caritas. Helfen, ohne zu fragen wem Für eine christliche Institution wie die theologische Hochschule Chur, bzw. für die katholische Kirche überhaupt, mutet der Grundsatz «Helfen, ohne zu fragen, wem» vertraut, ja gar selbstverständlich an. Die hiesigen Landeskirchen haben dieses Helfen zu einem grossen Teil an gute Organisationen wie «Caritas» oder «Fastenaktion» delegiert. Diese kümmern sich um die Menschen am Rande der Gesellschaft, bzw. die Verletzlichsten. «Helfen, ohne zu fragen, wem», war aber zur Zeit Dunants keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: medizinische oder pflegerische Hilfe gegenüber Soldaten wurde bis zu jenem Zeitpunkt lediglich für die Kämpfer der eigenen Nation geleistet – wenn überhaupt. Nur so lässt sich erklären, dass Dunant’s Aufruf, «Tutti Fratelli», also «alle Menschen auf dem Schlachtfeld sind Brüder» und «wir kümmern uns um sie alle, unabhängig davon, welcher Nation sie angehören», bis heute als berühmte Aussage genannt wird. Dieser Ansatz war im Umgang mit Schlachten und Kriegen schlicht und einfach revolutionär. Unter dem berühmten Motto "Tutti fratelli" schenkten die hilfsbereiten Frauen von Solferino den österreichischen Besatzern die gleiche Fürsorge wie den franko-sardischen Befreiern. Den geneigten Zuhörerinnen und Zuhörern ist vielleicht aufgefallen, dass Papst Franziskus eine Enzyklika geschrieben hat mit dem Titel «Fratelli Tutti», in dem Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft angemahnt werden. Offensichtlich wurde oder wird beiderorts der gleiche Traum geträumt. Dieser Geist der Nächstenhilfe ist dem christlichen Denken inhärent, so auch dem von Dunant, welcher in einem sehr frommen Umfeld in der calvinistischen Stadt Genf aufgewachsen ist. Als er "Eine Erinnerung an Solferino" schrieb, äusserte er, dass er von Gott inspiriert worden sei. Das Buch selbst enthält jedoch keine explizite religiöse Konnotation. Dunant vermied es, dem Buch einen religiösen Charakter zu geben, denn das Rote Kreuz hat von Anfang an einen universellen Anspruch. Ebenso bedeutet das rote Kreuz in der Flagge explizit nicht das Kreuz Christi, sondern wurde in Anlehnung an den Staat Schweiz, dem Ursprungsort der Rotkreuzbewegung kreiert. Das Handeln des politisch und religiös neutralen Roten Kreuzes basiert einzig und alleine auf den sieben Rotkreuzgrundsätzen: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Der helfende Dunant, der von seiner Mutter gelernt hatte, sich gegenüber den Schwachen solidarisch zu zeigen, ist für mich zum Bild, zum Vorbild geworden, denn er war ein Trendsetter, der damaligen Zeit weit voraus. Wenn ich vor vielen Jahren mich erstmals an der Betreuung eines kriegsverwundeten 11-jährigen Jungen in Addis Abeba beteiligt habe, so tat ich das, was Dunant damals vorgespurt hatte. Als SRK-Präsidentin möchte ich dieses Bild in die moderne Schweiz tragen. Heute trage ich es hierher: ein kritisches Hinterfragen hier in einer kirchlichen Hochschule, in kirchlichen Kreisen: Im Folgenden soll die Motivation des Rotkreuz- und Rothalbmondhandelns aus drei verschiedenen Perspektiven erläutert werden:
1. Die Not Not SRK Die Rotkreuzbewegung unterscheidet sich von anderen humanitären Organisationen unter anderem deshalb, weil weltweit 192 nationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Gemeinschaften Menschen in Not helfen. Konkret: Es gibt ein Ukrainisches Rotes Kreuz, ein Russisches Rotes Kreuz oder auch den syrischen Roten Halbmond. Wir sind politisch neutral und beziehen in Konflikten keine Position. Das Schweizerische Rote Kreuz, welches in rund 30 Ländern im Ausland im Einsatz ist, ist mit den nationalen Gesellschaften vernetzt. Gemäss unserer Strategie gehen wir als SRK nicht zu den nationalen Gesellschaften und sagen ihnen, was sie zu tun haben, sondern wir arbeiten nach dem Prinzip des «National Society Development», d.h. wir unterstützen die Gesellschaften vor Ort in ihren Tätigkeiten bei der Armutsbekämpfung oder der Präventionsarbeit mit dem Ziel, dass sie selber möglichst effektvoll Hilfe vor Ort leisten können. Wir setzen uns an der Stelle ein, wo eine nationale Gesellschaft uns um Hilfe bittet, weil bei ihnen die Not am grössten sei. Äthiopien beispielsweise ist ein Land, in dem mehrere Krisen nebeneinander existieren: der Krieg zwischen der äthiopischen Regierung und der abtrünnigen Region Tigray, extreme Trockenheit, Überschwemmungen, Erdrutsche, Seuchen, Covid 19. Handeln, wo Not herrscht, erfordert Mut oder – anders gesagt – erfordert die Beachtung des Prinzips der Unabhängigkeit: es bedeutet etwas zu tun, nicht nur, worauf die Medien sich konzentrieren, sondern auch etwas tun für die vergessenen verletzlichen Menschen. Als SRK Präsidentin will ich nun versuchen, - auch wenn dies für eine Romanistin an einer theologischen Hochschule durchaus gewagt ist, - eine Auslegung des Samaritergleichnisses (Lukas 10), aus Perspektive der grössten humanitären Organisation Rotes Kreuz zu entwickeln. Auf die Frage an Jesus, «wer ist mein Nächster», erwähnt er mit keinem Wort Gott. Ausgangspunkt ist die Not des am Boden liegenden Menschen. Fasziniert stelle ich anschliessend den Perspektivenwechsel fest: Lukas 10, 36 «Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde»? Dieser Perspektivenwechsel ist für das SRK matchentscheidend: Wem werde ich in der Notsituation der oder die Nächste? Das entscheide ich parteiunabhängig. Ich entscheide situativ, dort wo der Hunger herrscht, also dort, wo die entsprechende nationale Rotkreuzgesellschaft um Hilfe ruft. Situativ heisst konkret: In der Ukraine, wo Menschen auf die Flucht gehen oder eben in Äthiopien, wo es selbst für gestandene Kenner der Entwicklungszusammenarbeit schwerfällt, an das Gute zu glauben. In der Schweiz helfen wir da, wo Frau Müller auf den Notrufknopf angewiesen ist. Die Frage ist handlungsleitend, sie ist normativ, sie ist strukturell. Hilfe für verletzliche Menschen ist oft gepaart mit politischen Spannungen. Beispiel Meditrina, die medizinische Anlaufstelle für Sans Papiers in Zürich: In zum Bistum Chur gehörenden Kanton Zürich leben 2000 – 3700 Sans Papiers. Menschen ohne Ausweis. Die meisten von ihnen leben und arbeiten verlässlich und fleissig im Versteckten. Müssten sie eigentlich den Arzt aufsuchen, gehen sie dieses Risiko meist nicht ein. Dies wiederum wird zum Risiko für die gesamte Gesellschaft, denn Ansteckungen finden so ohne Kontrolle statt. Das SRK ist da, mit der medizinischen Anlaufstelle für Sans Papiers, mit einem Netzwerk von freiwilligen Ärzten, welche sich um die Patientinnen und Patienten kümmern. Diese Anlaufstelle ist politisch umstritten, doch kaum jemand schaut hin, denn der Staat ist froh, dass es uns gibt. Würden wir die Meditrina schliessen, hätte der Staat ein Problem. Welch grosse strategische Frage steht hinter der Frage nach der Not? Wer sind wir im Gleichnis des barmherzigen Samariters: Der barmherzige Samariter selber sind wir nicht mehr. Existenzsicherung ist Aufgabe des Staates. Bin ich das Wirtshaus? Es gibt diakonische Werke. Es gibt Häuser, die fremdes Geld verwalten (Ihre Kirchensteuer). Sind wir der Esel? Heute gibt es den SRK Fahrdienst oder das kirchliche Hilfswerk miva. Ich sage Ihnen: Weder als Samariterin, noch als Wirtshaus: als SRK Präsidentin bin ich jene, die die Geschichte erzählt – und sie muss immer wieder erzählt werden. Wem: Den Politikerinnen, den Politikern, den Kantonalverbänden, den Rettungsorganisationen, in der Nachfolge von Henry Dunant, Ihnen. Das mache ich stets aufgrund der sieben Rotkreuzgrundsätze, wobei die «Menschlichkeit» unter den 7 über allen anderen Grundsätzen steht: Alle anderen Grundsätze können nur verstanden werden, wenn von der Menschlichkeit als oberstes Prinzip ausgegangen wird. Not Kirche Doch was ist Ausgangspunkt der Kirche, wenn sie aus christlicher Sicht das Helfen begründen will? Ich wage zwei Aussagen: Die Würde in jedem Menschen zu erkennen, ebenfalls ein geliebtes Kind Gottes zu sein. So gesehen sind Christen auch mit den Nicht-Getauften zusammen eine Menschheitsfamilie, sie sind alle Schwestern und Brüder. Ausgangspunkt des Handelns in der Kirche als Institution ist ebenfalls die Not. Ihr Helfen begründet, motiviert und leitet sie von der jüdisch-christlichen Tradition ab. Jüdisch deshalb, weil die christliche Nächstenliebe das jüdische Erbe ist. Christliche Nächstenliebe ist nicht exklusiv christlich, sondern konstitutiv christlich. Caritas, verstanden als christliche Nächstenliebe, ist nicht exklusiv katholisch, sondern für die katholische Kirche konstitutiv. 2. Das Geld Das Geld SRK Wenn Henry Dunant Krieg in Europa erlebt hat, so tun wir dies heute ebenfalls. Die Parallelität provoziert die Frage nach dem benötigten Geld für die humanitäre Hilfe. Keine Angst, die Frage von Steuern bzw. Trennung von Kirche und Staat soll hier nicht diskutiert werden. Aber für das Helfen von Menschen in Not ist Geld unerlässlich. Beim heutigen Krieg in der Ukraine sind Mitarbeitende des Schweizerischen Roten Kreuzes unter dem Schutzschild des IKRK im Einsatz. Die Gefahr, der sie sich dabei aussetzen, ist die gleiche Gefahr, wie für die Zivilbevölkerung in der Ukraine ebenfalls: Die Sirene ertönt regelmässig, Schlaf ist oftmals nicht möglich, wo der Luftangriff stattfindet, ist schwer abzuschätzen. Und wie helfen diese Mitarbeitenden vor Ort? Sie erstellen die Logistik und sie bringen nebst benötigten Gütern Geld. Cash. Geld ist das wichtigste und effizienteste Gut, welches wir in die Ukraine einführen können, denn nur wenn Geld zufliesst, kann der lokale Markt am Leben erhalten werden. Nur wenn die Menschen vor Ort selber entscheiden können, wozu sie Geld ausgeben, können wir nachhaltig helfen. Das Schweizerische Rote Kreuz hat ein enorm grosses Spendenvolumen. Wir nehmen viel ein und wir geben viel aus. Fragen nach dem vielen Geld sind erlaubt. Wir nehmen Spendengelder ein vom Bund, von Kantonen, von der Wirtschaft, von Privaten und von öffentlichen Institutionen. Das Geld per se ist nicht «schmutzig». Die Ökonomie des sozialen Geldes ist Mittel zum Zweck und nie Zweck an und für sich. Das Geld hat stets einen «Inhalt», nämlich die Not des Menschen – und nicht Profit und Gewinnmaximierung für Investoren. Profitieren und gewinnen sollen immer nur die Menschen in Not. Ökonomie hat so gesehen die dienende Funktion inne, gegenüber sozialem Auftrag Not zu lindern. Diese Debatte können wir jetzt nicht führen. Das SRK kann jedoch einen wertvollen Beitrag leisten, damit Soziales nicht korrumpiert wird durch Ökonomie. Wir sind der Anwalt für «Pfuithemen». Wir wissen um die Korruptionsmacht des Geldes. Gier nach Macht und Geld macht korrupt. Wir überprüfen regelmässig, ob unsere Geldgeber unsere hohen ethischen Standards einhalten und setzen auf Transparenz. Hier sitzen wir bestimmt im gleichen Boot wie die Kirche. Wir müssen gemeinsam Mechanismen schaffen, damit das Geld zu den Verletzlichsten fliessen kann. Diesbezüglich können wir unser Bewusstsein gegenseitig schärfen. Geld Kirche Bei Ausbruch der Ukraine-Krise hat uns die katholische Kirche des Kantons Zürich finanziellen Support geleistet. Dafür sind wir sehr dankbar. Wenn ich einen Wunsch an die Kirche zu äussern hätte, dann das Anliegen, dass die Option für die Armen konkret ist, dass die Kirche Partei ergreift für die Bedürftigen. Esspakete für Gestrandete zu verteilen ist wichtig. Aber die caritative Hilfe muss begleitet sein von einem öffentlich vernehmbaren Engagement beispielweise gegen den menschenunwürdigen Status von Sans Papiers. Dass der Staat bei der medizinischen Versorgung von Sans Papiers wegschaut, ist nachvollziehbar. Wenn es die Kirche tut, gerät diese jedoch in Erklärungsnot. Der barmherzige Samariter im Gleichnis Jesu hat dem Wirten Geld gegeben, damit dieser den Verwundeten auch noch nach dem Weggang des Samariters pflegen kann. Wer viel hat, soll viel geben und wer wenig hat, gibt wenig. So habe ich persönlich die religiöse Erziehung erfahren. Wenn wir einmal anerkennen, dass Armut und Not auch in der Schweiz allgegenwärtig sind, dann gilt dieses Prinzip erst recht. Dann gibt die arme Witwe, welche gemäss Jesus zwei kleine Kupfermünzen gespendet hat, viel mehr als andere. Daran sollen wir uns, soll sich das SRK und soll sich auch die Kirche ein Beispiel nehmen. Wer viel hat, soll viel ausgeben – an die Armen. Armut in der Schweiz ist heute verdeckt. Die Armen leben unter uns, aber wir erkennen sie nicht. Wie sollen wir ein Engagement für Arme und Ausgegrenzte wahrnehmen, wenn wir sie nicht sehen? Daher ist es eine Aufgabe, die nicht nur an eine Sozialarbeiterin delegiert werden kann, dass wir die Augen öffnen und sensibel werden für die kleinen Hinweise. Oft besteht die Not auch darin, dass Menschen nicht mehr in Kommunikation mit der Mitwelt sind: Kein Internet, keine Vereinszugehörigkeit und vor allem die Kinder müssen sich von allen möglichen Angeboten mit fadenscheinigen Ausreden verabschieden. Hier ist die Stärke der Gemeindediakonie: Erkennen der Not und niederschwellige Angebote machen, die niemanden ausgrenzen. Hierzu benötigen wir die Mittel der Kirche. Die Kirche darf sich ihren Auftrag immer wieder vor Augen halten: Die katholische Kirche hat sich am 2. Vatikanischen Konzil nicht zuletzt unter dem Einfluss der jungen Kirchen Lateinamerikas zur „Option für die Armen“ entschieden. In dieser Tradition steht auch der Südamerikaner Papst Franziskus. Kirchliches Handeln ist immer auch daran zu messen, was es für die Armen, Kranken, Randständigen bewirkt. Diakonie, d.h. allgemein menschliches Hilfehandeln, begründet und motiviert als christliche Praxis, ist eine der vier grundlegenden Feldern von Kirchsein: Liturgie, Diakonie, Verkündigung und Koinonia. Im Zusammenspiel mit dem Staat, mit dem Markt von NGO’s und humanitären Organisationen und mit Familien wirkt die Institution Kirche mit ihren Pfarreien im Sozialraum mit ihren drei Kapitalien: Öffentliche Gebäude und Kirchen an bester Lage, ein unglaubliches Freiwilligennetz und ein christliches Menschenbild, das den Menschen nicht instrumentalisiert, auch nicht missionarisch, sondern ihn als Ebenbild Gottes, als Geschöpf Gottes in seiner Freiheit und Verantwortung achtet und bevollmächtigt. 3. Das Schlachtfeld Schlachtfeld SRK Das Schlachtfeld von Solferino ist Ausgangspunkt für die Entstehung der Rotkreuzbewegung. Das moderne Rote Kreuz ist aber eine Institution, die nicht rückblickend die Tradition als Mausoleum verehrt. Tradition ist für uns das «Start up Programm», um prospektiv Suchbewegungen zu lancieren, zukünftige Felder abzustecken, wo Menschen verletzt oder getötet werden oder aber hungern. Es zeichnet sich jetzt schon ab, bzw. die Bewegung hat bereits begonnen, dass weltweit grosse Scharen an Menschen aufgrund des Klimawandels zur Flucht gezwungen werden. Das Rote Kreuz muss solche Entwicklungen antizipieren und in seiner Strategie integrieren. Armut mit Migrationshintergrund, also Flüchtlinge, bleiben auf der Agenda der Schlachtfelder bestehen. Flucht ist ein politisch angeschlagener Begriff, der nicht selten die westliche Gesellschaft entzweit. Dieser Trend wurde seit langem zum ersten Mal unterbrochen, als ein neues Schlachtfeld in der Ukraine entstand. Die neu gelebte Einigkeit im Umgang mit den Opfern des Krieges lässt hoffen auf mehr. Wenn wir immer betonen, dass das Rote Kreuz politisch neutral ist, so gibt es unter der Schirmherrschaft der «Menschlichkeit» stets die klare und auffordernde Ausnahme, dass wir unsere Stimme dann erheben, wenn die Menschlichkeit mit Füssen getreten oder das humanitäre Völkerrecht verletzt werden. Die Stimme für die Armen, das müssen wir trotz aller politischen Neutralität – oder gerade deswegen - bleiben. Der Ukraine-Krieg hat europaweit eine beispiellose Solidaritätswelle ausgelöst. Als ich zu Beginn des Kriegs das Bundesasylzentrum in Zürich besuchte, stellte ich fest, dass erfreulicherweise sehr viel Aufwand betrieben wurde, um die ukrainischen Familien so rasch als möglich in Gastfamilien unterzubringen. Es herrschte grosser Betrieb diesbezüglich. Unten im Hof des Zentrums standen junge Männer aus Afghanistan, welche keine solche bevorzugte Behandlung erhielten. Sie wurden nicht beachtet. Ich kenne persönlich einen Afghanen, der die Flucht in Angriff genommen hat. Er war an Leib und Seele bedroht und flüchtete teilweise unter Todesgefahr. Seine Hände zeigen noch Schwielen von der Bootsfahrt über das Mittelmeer. Dieser freundliche, fleissige Mann müsste die gleichen Rechte erhalten wie die Ukrainer; wir vom SRK dürfen zwischen den beiden Flüchtlingsströmen nicht unterscheiden, weshalb wir ihnen allen helfen, wenn sie in Not sind. Auch das ist meine Mission als SRK-Präsidentin. Schlachtfeld Kirche Es gibt Strömungen innerhalb der Landeskirchen, welche sich explizit dagegen aussprechen, Menschen nicht christlichen Glaubens in die Schweiz einreisen zu lassen. Begründung: Wir wollen das Christentum erhalten und keine schleichende Islamisierung der Schweiz dulden. Dies bringt mich zurück auf das Gleichnis des barmherzigen Samariters: Aus meiner persönlichen Sicht ist die Botschaft des Samariters explizit die Aussage, dass derjenige, der dem Notleitenden zur Hilfe wird, der Nächste ist und nicht derjenige, der Christ oder gar Priester ist. Ich bin klar der Meinung, dass das Exempel des Samariters dazu verwendet wird, dass nur die Tat der Hilfe entscheidend ist, nicht aber die Herkunft oder Religion des Opfers. Beim «sich kümmern» um Menschen in Not, ist uns die katholische Kirche oftmals ein guter und verlässlicher Partner. Gräben tun sich wie erwähnt dort auf, wo Politik oder Teile der Kirchen die Hilfe auf Notleidende christlichen Glaubens reduzieren wollen. Die Gleichbehandlung von Flüchtlingen ist aktuell ein heisses Eisen in Politik und Gesellschaft. Ohne dass wir deswegen mit lauten Tönen von uns hören lassen, sind wir in ständigem vertraulichen Dialog mit den Behörden, um die Ungleichbehandlungen zu benennen. Auch das ist das SRK: Wir handeln, wir helfen, Not zu lindern. Was können Einzelne, was kann die Kirche tun? Als bald 57-jährige Frau habe ich mein Leben lang aktiv miterlebt, wie die Zivilgesellschaft, die NGO’s, die Politik und die Kirche zusammen Menschen in Not begleiten. Alle Einzelne geraten auch immer wieder an ihre Grenzen. Gemeinsam sind wir eindeutig stärker. Die Option für die Armen ergreift nicht exklusiv die Kirche, die Kirche interpretiert diese Option aus einem christlichen Menschenbild undsetzt dabei auch ihre Räume und Ihr Freiwilligennetz ein. Menschen, die auch in der Schweiz gesellschaftlich durch die Maschen fallen, fallen oftmals auch aus dem politischen, dem behördlichen Rahmen. Nicht selten springt die Zivilgesellschaft ein. Das SRK setzt nicht auf das christliche Menschenbild, sondern auf eine explizite Menschlichkeit im universalen Sinn. Da der Gründer des SRK ein frommer calvinistischer Kaufmann war, ist das SRK von der kirchlichen Resonanz in Schwung gesetzt worden. Die katholische Kirche – so sei es mir an dieser Stelle erlaubt zu benennen – hat keine einfache Zeit. Ihre öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich aktuell auf Themen der Dissonanz, auf Missbrauchsgeschichten, Streitereien um die Rolle der Frau oder auf den Umgang mit der Homosexualität. Lauter Diskussionen um die eigene Organisation. Es wird zwar postuliert, man wolle für die Menschen da sein, aber das Bild, das die Kirche öffentlich abgibt, suggeriert, dass sie vor allem für sich selbst da ist. Sie erscheint selbstgenügsam. Ich gehe davon aus, dass die katholische Kirche diese Probleme lösen will, ansonsten erleidet sie einen fortlaufenden Verlust an Glaubwürdigkeit. Es liegt nicht an mir, der Kirche gute Ratschläge zu geben. Aber ein Appell sei erlaubt, sie zu ermuntern, sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu positionieren, sei es hinsichtlich der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich, sei’s in der Frage zur Ungleichbehandlung von Flüchtlingen. Kirchen und NGO’s tun gut daran, sich besser zu vernetzen. Wenn das SRK bei der Aktion «zweimal Weihnachten» Geschenke für Bedürftige sammelt, werden diese Geschenke nicht selten von Kirchgemeinden an die Betroffenen abgegeben. So sieht gute Zusammenarbeit aus. Das SRK hilft in der Not und in der Prävention. Dies tut auch die Kirche. Im Unterschied zu unserer Organisation hat die Kirche aber die einmalige USP, dass sie den Menschen auch spirituell-moralisch beistehen soll, kann und tut. Das Bewusstsein für die Caritas ist nicht einfach selbstverständlich, sondern braucht immer wieder eine Grundlage. Ob es hier nicht auch eine grosse Not gibt, auf die spezifisch die Kirche eingehen soll? Erlauben Sie mir, wenn es um die Frage der Vision der Kirche geht, auf die Vision des Jesuitenpaters Antonio Spadaro zu verweisen, der ein Freund von Papst Franziskus ist: Er träumt von einer Kirche als Mutter und als Hirtin. Er meint, die Diener der Kirche müssten barmherzig sein, sich der Menschen annehmen, sie begleiten – wie der gute Samariter, der seinen Nächsten wäscht, reinigt, aufhebt. Die Diener des Evangeliums müssten gemäss Spadaro in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Schluss Zum Schluss beantworte ich die im Einladungsflyer gestellten Fragen aufgrund meines Vortrags:
Wie Sie sich als Kirche und als Universität auf den gesellschaftlichen und technologischen Wandel vorbereiten, ist Ihre Verantwortung. Wir vom SRK verfolgen drei Ziele:
Der Einsatz für die Verletzlichsten ist harte Arbeit, die nicht selten als politisch verunglimpft wird. Das braucht Mut und Durchhaltevermögen. Wie Sie als Kirche diesen Mut nähren und sich im Durchhalten einüben, ist Ihr Geschäft. Dieses betreiben sie mit Kirchenräumen an besten Lagen, mit einem Freiwilligennetz und mit einem christlichen Menschenbild und nicht mit Machtpolitik. Ich habe einen Traum für das SRK:
Lassen Sie mich schliessen mit einem Zitat von Henry Dunant in dessen Muttersprache: „Les générations présentes transmettent aux générations futures les idées qu’elles ont reçues avec des développements toujours nouveaux, avec de nouvelles applications (…) car nous naissons tous ouvriers de cette grande cité de Dieu qui s’appelle l’humanité. » Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Es gilt das gesprochene Wort. |
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