Der Augenschein an einem heutigen Brennpunkt der Migration erinnert daran: Die Weihnachtsgeschichte ist eine Fluchtgeschichte.
In der meist hektischen Adventszeit nehme ich mir jeweils Zeit, um über das vergangene Jahr nachzudenken. Was hat mich geprägt? Gibt es ein Ereignis, eine Begegnung, die mich verändert hat, gerade in meiner Beziehung zu anderen Menschen? Dieses Jahr gab es ein solches Ereignis. Es hat mich und meine Familie nachhaltig beeindruckt und geprägt. Mehr noch, es hat uns den tieferen Sinn der Weihnachtsgeschichte einmal mehr nahegebracht. Ein griechischer Freund von uns betreibt ein eigenes Flüchtlingshilfswerk. Da er weiss, dass ich mich seit vielen Jahren für Menschen in Notsituationen engagiere, fragte er mich, ob ich Interesse hätte, mit meiner Familie ein Flüchtlingslager in Athen zu besuchen. Zufälligerweise passte es uns allen. Zudem erfuhr ich, dass ein befreundeter Schweizer Fachexperte für Migrationsfragen ebenfalls in Griechenland sei. Seit über zwanzig Jahren verbringt er mehrere Wochen pro Jahr auf Lesbos und unterstützt mit einer Hilfsorganisation Flüchtlinge. Dieser Migrationsfachmann brachte uns mit «Lesbos Solidarity» in Verbindung, einer Organisation, die einen Laden betreibt, der Handarbeiten von Flüchtlingen verkauft. Da gibt es zum Beispiel Taschen, die aus den Schlauchbooten hergestellt werden, mit denen die Menschen, manche mit ihren Kindern, übers Meer gekommen sind. Im grossen Haus von «Lesbos Solidarity» erhalten die Kinder auch Unterricht. Angesichts der Corona-Situation findet er aber nur unregelmässig statt. Katastrophale Verhältnisse Lesbos ist eine wunderschöne Insel, ein idyllisches Ferienparadies – bis man die Überreste des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria 1 sieht. Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Es lagen Kindersachen herum, die nicht verbrannt waren, eine Babytragtasche etwa. Ich stellte mir die Familie vor, die ihr Kleinkind in dieser Tasche übers Mittelmeer gebracht hatte. In den Überresten fanden sich auch Kinderstiefel. Wem sie wohl gehört hatten? Welche Strapazen, welche Ängste und Unsicherheiten hatten diese Frauen, Männer, Jugendlichen und Kinder aushalten müssen! Dann, angekommen im Flüchtlingslager, mangelte es an allem: an Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und Toiletten. Wenn es regnete, versank alles im Sumpf. Niemand will mit seinen Kindern in derart katastrophalen und unzumutbaren Verhältnissen leben. Die neuen Anlagen sind von Stacheldraht umgeben. Das Flüchtlingslager ist besser geschützt als der Flughafen von Athen. Geht man so mit Menschen um, die schutzbedürftig und meist traumatisiert sind? Bräuchten sie nicht vielmehr Mitgefühl, Solidarität und menschliche Wärme anstelle von Stacheldraht? Das Unverständnis und die Wut, die in mir hochstiegen, haben sich bis heute nicht gelegt. Auch wenn in Athen, das wir ebenfalls besuchten, die Flüchtlinge in Containern untergebracht sind, die wenigstens auf festem Boden stehen. Schwindende Solidarität – und ein Lichtblick Natürlich gibt es zahlreiche Freiwillige wie unseren Freund. Sie helfen den ankommenden Männern und Frauen und bereiten sie auf das Leben in Griechenland vor. Doch Griechenland ist nicht in der Lage, die Grundbedürfnisse der vielen Geflüchteten abzudecken. Dies auch deshalb, weil die Regierung in Athen von anderen Staaten zu wenig Unterstützung erhält. In der Folge werden die Flüchtlinge sich selbst überlassen. Etliche Familien leben in Athen und Umgebung auf der Strasse, ohne finanzielle oder soziale Unterstützung. Natürlich gibt es auch einzelne, die es schaffen und tatsächlich Arbeit und eine Wohnung finden. Andere fassen irgendwann Fuss in anderen europäischen Staaten. Allerdings habe ich vielfach gehört, dass die Solidarität der Einheimischen, die früher auf Lesbos sehr stark war, inzwischen praktisch verschwunden sei. Das hat auch mit den Folgen der Pandemie und der Finanzkrise zu tun, die gerade der Insel Lesbos stark zugesetzt haben. Ein Lichtblick ist das Restaurant Nan in Mytilinis, wo Geflüchtete arbeiten und die Einheimischen eine gelebte Solidarität an den Tag legen. Die Aktualität der Weihnachtsgeschichte Zurück in der Schweiz und kurz vor Weihnachten wird mir und meiner Familie klar, welche Aktualität die Weihnachtsgeschichte hat. Was wir in Griechenland gesehen haben, hat sich auch vor zweitausend Jahren ereignet. Maria und Josef mussten flüchten, um ihr Kind vor dem staatlich verordneten Terror des Königs Herodes zu schützen. Sie durchquerten die Wüste, die harte, endlos scheinende Wüste und erreichten in erschöpftem Zustand Ägyptens Grenze. Was hat Josef den Grenzwächtern dort erzählt? Etwa, dass ihr Kind verfolgt werde? Oder dass König Herodes das Kind bei der Rückkehr töten würde? Papiere hatten sie wohl keine dabei. Musste Josef einen Schlepper bezahlen, um mit der Familie die Grenze zu überwinden? Wie und wovon haben sie in Ägypten gelebt? In einem Flüchtlingslager? Diese universelle Geschichte, die an Weihnachten erzählt und gesungen wird, ist Alltag für die Flüchtlinge, die ich dieses Jahr auf der Insel Lesbos und in Athen getroffen habe. Das abgebrannte Flüchtlingscamp Moria ist Zeuge der Verzweiflung über die menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Auch im heutigen neuen Camp fehlt es nach wie vor an den wichtigsten Lebensgrundlagen: Menschen müssen in Zelten und Containern in Dreck, Schmutz und Schlamm hausen. Die Zelte sind undicht, die hygienischen Bedingungen katastrophal, das Essen ist ungeniessbar. Das Schlimmste ist aber die fehlende Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge. Die Camps sind als eigentliche Gefängnisse mit Zäunen und Stacheldraht gesichert. Menschenrechte und Menschenwürde haben dort ihre Bedeutung verloren. Urkraft der Hoffnung Es ist kein Zufall, sondern Programm, dass sich die Weihnachtsgeschichte unterwegs auf der Flucht abspielt. Sie ereignet sich in der Fremde, wie auch die wichtigsten Aussagen der christlichen und jüdischen Religion aus der Auseinandersetzung mit dem Fremdsein hervorgehen: Gott hat sich dem Volk Israel gezeigt beim Exodus aus Ägypten; das Jesuswort «Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen» erklärt den Umgang mit Fremden zur Nagelprobe der Nächstenliebe. Die Weihnachtsgeschichte legt den Finger auf den wunden Punkt des menschlichen Daseins. Unser Blick soll sich auf diejenigen richten, die in Not sind. Ist es nun richtig, dass wir gleichwohl Weihnachten feiern und uns an dem idyllischen Bild des Neugeborenen in der Futterkrippe erfreuen? Ich meine: Ja. In diesem Bild drückt sich die Urkraft der menschlichen Hoffnung aus. Indem das Weihnachtsfest das neugeborene Kind in den Mittelpunkt stellt, verweist es auf die voraussetzungslose Liebe, die alle Menschen zum Leben brauchen und die allein das Negative überwindet. Die leere Babytragtasche in Moria wühlt mich noch immer auf. Als Mutter – und stellvertretend für alle Mütter – sehe ich im weihnächtlichen Kind etwas Universelles, in welchem es keinen Unterschied gibt zwischen einheimisch und fremd. Die Geburt in Bethlehem ist der Anfang einer Geschichte, die Gewalt, Ausgrenzung und Hass verwandelt in Achtsamkeit, Respekt und Fürsorge. Diese Geschichte ist nicht abgeschlossen. Wir können Teil von ihr sein – voller Zuversicht und über Grenzen hinweg. Publiziert am 24. Dezember 2021 auf Journal 21
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