Seit nun mehr fast einem Jahr dominiert die Corona-Pandemie den Alltag der Menschen in der Schweiz. Wir haben gelernt, Distanz zu wahren, Hygieneregeln einzuhalten, zu verzichten.Man könnte meinen, wir sässen alle im gleichen Boot. Doch dem ist nicht so. Die Pandemie trifft diejenigen Menschen in unserem Land, welche schon vor Ausbruch der Pandemie in prekären Verhältnissen gelebt haben, ungleich härter. So auch die Venezolanerin Camelia* und ihre beiden schulpflichtigen Kinder.
Die Flucht Drohungen waren Alltag für Camelia. Die heute 40-jährige venezolanische Unternehmerin erlebte während Jahren, wie ihre Familie politisch verfolgt wurde, da ihr Vater Mitglied einer oppositionellen politischen Partei war. Die Familie hoffte, dass sich die Lage eines Tages beruhigen würde. Doch dann wurden die Drohungen in die Tat umgesetzt. Camelia musste erleben, wie ihr Vater und ihr Bruder auf offener Strasse erschossen wurden. Und dann wurden ihre Onkel exekutiert. Schliesslich richteten sich die Drohungen gegen sie. Camelia tauchte unter und versteckte sich in einem winzigen Raum, den ihr eine Freundin zur Verfügung stellte. Dort blieb sie zwei Jahre lang. Als sich nahe beim Versteck eine Detonation ereignete, beschloss Camelia, zusammen mit ihren Kindern zu fliehen. Unter dramatischen Bedingungen gingen sie zu Fuss oder per Bus über gefährliche Pfade, ständig in Angst, entdeckt und zurückgeführt zu werden. Bis Ende 2020 haben insgesamt 5,4 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner ihr Land verlassen, denn nebst persönlichen Erlebnissen durch Bedrohungen und Ermordungen waren u.a. inzwischen auch das Bildungs- und das Gesundheitssystem zusammengebrochen. Medikamente waren nicht mehr zu bekommen. Die Flüchtlinge halfen sich gegenseitig, und Camelia gelang es schliesslich, via Kolumbien den Weg nach Europa zu finden. Die kleine Familie war insgesamt sieben Jahre lang unterwegs. Die Ankunft in der Schweiz In der Schweiz hat Camelia eine zumindest vorübergehende Bleibe gefunden; hier hat sie ihr Asylgesuch eingereicht. Die Chancen für eine definitive Aufnahme sind intakt. Doch Camelia und ihre Kinder kämpften und kämpfen noch immer mit den Folgen ihrer langen Flucht. Camelia ist aufgrund des langen Untertauchens inzwischen stark traumatisiert und paranoid. Ihre Kinder hatten nie ein anderes Leben gekannt, als versteckt zu sein, sich still verhalten zu müssen und ja nicht aufzufallen. Das isolierte Leben wiederholt sich für die Familie. Zusammen mit ihren schulpflichtigen Kindern lebt Camelia in einer Einzimmerwohnung in Zürich. Sie verlassen die Wohnung nur für das Nötigste. Die Angst vor Verfolgung ging nie ganz weg. Für die Mutter ist es nach wie vor nicht möglich, den Tag ohne Angst und ohne ständige Weinkrämpfe zu verbringen. Die Kinder kennen nur die Kinder ihrer Klasse. Sie verbringen die Freizeit nur zusammen mit der Mutter in dem einen Zimmer mit dem einen Bett. Draussen zu spielen und sich auszutoben, ist den Kindern fremd. Camelia ist trotz allem sehr dankbar für die zumindest vorläufige Aufnahme in unserem Land. Sie erhält Unterstützung von Hilfswerkern, Kirchenvertretern und gemeinnützigen Anwälten. Sie sind hier in Sicherheit, auch wenn sie nicht immer nur mit offenen Armen empfangen wurden. Das Einleben bleibt für sie wie für viele traumatisierte Flüchtlinge schwierig: Es fehlen soziale Kontakte, es fehlt das Wissen über grundlegende Fähigkeiten wie die Benützung des öffentlichen Verkehrs oder das Wissen, wie man sich in der Schweiz um einen Job bemühen muss. Und dann kommt noch Corona dazu Camelia und ihre Kinder waren bereits vor der Pandemie isoliert und hatten Schwierigkeiten, sich in ihrem neuen Leben zurecht zu finden. Mit Corona wird die Lage aber äusserst heikel und delikat. Nach wie vor sprechen die Kinder noch zu wenig gut Deutsch. Dabei lernen Kinder eigentlich schnell. Sie brauchen dafür möglichst viel Kontakt mit Gleichaltrigen, in der Schule, ergänzenden Deutschunterricht mit viel Präsenzzeit, Gruppenanlässe wie Klassenfeste, Schulreisen, Sportanlässe, etc. Dies alles ist aufgrund der Pandemie massiv eingeschränkt. Sollte die Schule wieder auf Fernunterricht wechseln, würde die Situation der Familie prekär. Das Beschaffen von Computern für das Homeschooling ginge nicht ohne fremde Hilfe. Die Einzimmerwohnung versehen mit einem Bett und einem kleinen Tisch bietet zudem keine Möglichkeit, so zu lernen, wie es anderen Schülern in besseren Verhältnissen möglich ist. Die Pandemie öffnet die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter Auch wenn die Pandemie das ganze Land erfasst, so sind die Folgen für Menschen wie Camelia ungleich härter. Die Armen werden noch ärmer und von der Chance abgeschnitten, sich zu integrieren, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Es gibt zahlreiche versteckte Opfer der Corona-Pandemie, die kaum gesehen werden. Camelia ist ein Beispiel unter vielen. Schauen wir hin. Vergessen wir nicht die, welche nun am meisten Unterstützung brauchen. * Die Kolumnistin kennt die Familie persönlich. Dieser Text wurde publiziert am 27. Januar 2021 auf www.journal21.ch
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