Ende November kommt die neuste SVP-Volksinitiative zur Abstimmung, welche unter dem Vorwand nationaler Selbstbestimmung die Schweiz aus der EMRK und der Strassburger Menschenrechts-Gerichtsbarkeit herauslösen möchte.
Diese Initiative gilt es klar abzulehnen. Das Selbstbestimmungsrecht ist ein zentrales Recht für die Schweizer Bevölkerung und wird durch das Völkerrecht international abgesichert. Mit ihrer sogenannten «Selbstbestimmungsinitiative» gibt die SVP vor, dieses Recht zu verteidigen. In Tat und Wahrheit bewirkt sie das Gegenteil von dem, was sie angeblich möchte – und schadet damit dem Wirtschaftsstandort Schweiz. Die KMU bilden mit 98% aller Unternehmungen das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Diese wären von einer Annahme der Initiative direkt betroffen, denn es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Schutz der Menschenrechte und der Verteidigung der Anliegen des Gewerbes: Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) schützt die Interessen der Wirtschaft, insbesondere einzelner Gewerbebetriebe gegen Übergriffe des Staates. Ein bekanntes Beispiel ist die Verteidigung der Werbefreiheit der Autronic AG an einer Messe in Zürich: Die Betreiberin von Parabolantennen wollte dort den Verkauf von Autronic-Empfangsgeräten ankurbeln, was ihr aber verweigert wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte die Verletzung der Meinungsfreiheit durch die Verhinderung von Werbung fest. Das Völkerrecht legt den Grundstein für florierende KMU Das Völkerrecht besteht aus internationalen Verträgen. Es ist nicht einfach Schicksal, sondern das Ergebnis von Verhandlungen und von demokratisch legitimierten Ratifikationsprozessen. Diese Verträge bilden den Grundstein für die KMU oder anders ausgedrückt: KMU sind auf das Völkerrecht, auf diese internationalen Verträge angewiesen. Wir reden hier von Freihandelsabkommen, Luftverkehrsabkommen oder internationalen Verträgen zum Schutz des geistigen Eigentums für Schweizer KMU im weltweiten Export. Dazu zählen auch zwischenstaatliche Vereinbarungen etwa im grenzüberschreitenden Warenverkehr zwischen der Schweiz und Süddeutschland. Diese elementaren Grundlagen des Erfolgs der Schweizer Wirtschaft wären durch eine Annahme dieser Initiative gefährdet. Problematische Verletzung von Verträgen Die Initiative provoziert mutwillig die Verletzung von Verträgen. Während die Kündigung von Verträgen legitim, wenn auch in vielen Fällen nicht klug ist, ist die Verletzung von Verträgen immer problematisch und unterminiert den guten Ruf eines Vertragspartners. Es leuchtet jedem Gewerbler, jeder Gewerblerin ein, dass die Verletzung von Verträgen nicht nur Chaos und Rechtsunsicherheit verursacht, sondern auch Rufschädigung für den Betrieb. Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten. Die SVP-Initiative schadet deshalb dem guten Ruf der Schweiz als Staat und Wirtschaftsstandort. Wir verlieren so unsere Glaubwürdigkeit und werden als unverlässliche Vertragspartner weniger beachtet. Dies würde uns in der Gestaltung der Aussenpolitik stark einschränken. Wir würden uns selber Fesseln anlegen und unsere internationale Stellung schwächen. Die Initiative rüttelt am Erfolgsmodell Schweiz Für den Erfolg der Exportnation Schweiz ist unsere offene Volkswirtschaft von zentraler Bedeutung. Voraussetzung für diese offene Volkswirtschaft, die unseren Unternehmen den Marktzugang in der gesamten Welt ermöglicht, sind stabile internationale Beziehungen. Für einen Kleinstaat wie die Schweiz gibt es keine Alternative zum Völkerrecht; dieses ist der Garant für Stabilität und gesicherte rechtliche Verhältnisse – und zudem auch die Zusicherung unserer Neutralität. Gerade seit der durch Donald Trump ausgelösten verhängnisvollen, protektionistischen Welle – «America first» – ist die Schweiz umso mehr auf die Verlässlichkeit des Völkerrechts angewiesen. Die SVP-Initiative greift aber gerade die Geltung dieses Völkerrechts in seinem Kern an und rüttelt damit am Erfolgsmodell Schweiz. Bei einer Annahme der Initiative würde sich die Schweiz als Vertragspartnerin international selbst ins Abseits stellen. Eine solche Rechtsunsicherheit wäre für die Schweizer Wirtschaft Gift, denn die Initiative würde sich auch auf bestehende Abkommen negativ auswirken – auf die Freihandelsabkommen, auf die Investitionsschutzabkommen, auch auf die bilateralen Abkommen mit der EU. Das Schadenspotenzial ist immens gross. Gefahr eines Ausschlusses aus dem Europarat Die Schweizer Wirtschaft kann nur florieren, wenn sie sich auf die bewährte Rechtskultur verlassen kann. Diese wird mit der Initiative in Frage gestellt. Das Signal, wonach einmal abgeschlossene Verträge nicht mehr einzuhalten sind, wäre verheerend; das würde unser Rechtssystem in seinen Fundamenten erschüttern. Dazu käme, dass unter Umständen die Gefahr eines Ausschlusses aus dem Europarat und der entsprechenden automatischen Kündigung der EMRK bestünde, was für die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition und ihrem internationalen Engagement für die Menschenrechte einen katastrophalen Imageschaden bedeuten würde. Die Schweiz ist übrigens das einzige Land, das die Einhaltung von gegenseitigen Versprechen sogar in seinem Namen trägt. «Eidgenossenschaft» ist im Grunde nur ein altertümliches Wort für «völkerrechtlicher Vertrag». Ein Vertrag ist eine Genossenschaft, in dem Sinne, dass er die gemeinsamen Interessen fördert und mit einem Eid bekräftigt, in dem Sinne, dass das Versprechen formell abgegeben ist. Die Verlässlichkeit gegenseitiger Versprechen ist also gerade das Fundament, auf dem die Schweiz errichtet wurde. Ausgerechnet dieses Fundament soll nun in Frage gestellt werden, indem die Schweiz regelmässig und systematisch solche formell abgegebene Versprechen brechen müsste. Das greift nicht nur die Interessen der Schweiz grundsätzlich an, es greift auch die Werte grundsätzlich an, auf denen die Schweiz errichtet wurde. Die EMRK aus Sicht der Christdemokratie Abschliessend noch ein persönlicher Gedanke: Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein klassisches Produkt der christilich-sozial geprägten europäischen Nachkriegszeit. Nach dem Krieg entstand der innigste Wunsch nach Frieden und Stabilität. Ziel war es, den Menschenrechtsschutz auf europäischer Ebene in Sinne eines Mindeststandards zu vereinheitlichen und dadurch Frieden, Sicherheit und ein Fundament für Demokratien zu schaffen. Diese Errungenschaft darf durch diese Initiative nicht gefährdet werden. Menschenrechte und deren internationaler Schutz gehören somit zur DNA einer christlich geprägten Politik. Die Schweiz gilt als Hüterin der Menschenrechte. Gerade in Zeiten, in denen die Menschenrechte in vielen Staaten zunehmend unter Druck geraten, ist es besonders wichtig, dass die Schweiz zu ihren Versprechen steht. Sollte die Initiative angenommen werden, würde ausgerechnet die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention schwächen – einen weltweit einzigartigen Menschenrechtsschutz. Diesen gilt es zu verteidigen. Ganz besonders von einer Christdemokratin, wie ich es bin. Publikation: Andreas Gross, Fredi Krebs, Martin Stohler, Cédric Wermuth (Hrsg.): Freiheit und Menschenrechte, Editions le Doubs CP 65, St.-Ursanne. September 2018
2 Comments
Richard
20/2/2022 04:53:19 pm
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