In der schweizerischen Politik zieht eine kompromisslose Radikalisierung ein. Damit werden tragfähige Lösungen verhindert.
Wenn sich ein politisches Schwergewicht wie CVP-Ständerat Konrad Graber Ende dieses Jahres von der Politbühne verabschiedet, dann geht es um viel mehr als um einen einzelnen Parlamentarier: Mit Graber verabschiedet sich ein grosses Stück Kompromissfähigkeit der Schweizer Politik. Das Wort „Kompromiss“ bedeutet gemäss Duden eine Übereinkunft durch gegenseitige Zugeständnisse. Es wird eine gemeinsame Lösung gesucht, indem beide Seiten etwas geben und beide Seiten etwas erhalten. Das, was ich geben muss, ist mir unter Umständen unangenehm. Als Politikerin schadet es mir vielleicht sogar in der öffentlichen Wahrnehmung. Beim Kompromiss erhalte ich aber auch etwas zurück. Unter dem Strich wird die Lösung im Gesamtinteresse höher gewichtet als das Detail, welches mir zuwider ist. Und wenn der Kompromiss über lange Zeit nicht innerhalb eines Sachthemas gefunden werden kann, so ist es legitim, diesen über zwei Sachthemen hinweg zu suchen. Die Schweiz rühmt sich stets ihrer direkten Demokratie, doch vielen ist gar nicht bewusst, dass es das Erarbeiten von Kompromissen ist, welches unsere Gesellschaft zusammenhält. Kompromisse ermöglichen uns ein stabiles politisches System; politische Kompromisse garantieren uns schlussendlich Wohlstand und sozialen Frieden. Das bedeutendste Beispiel dafür ist die Reform der AHV. Während notwenige Anpassungen der ersten Säule früher in regelmässigen Abständen zustande kamen, ringen wir seit 20 Jahren vergebens um eine tragfähige Lösung. Warum? Auf der einen Seite gibt es eine zunehmende Polarisierung der politischen Parteien: Wer sich rechts oder links „klar“ positionieren will, muss den Klassenkampf gegen den anderen Pol führen, was meist mit einer kompromisslosen Radikalisierung einhergeht. Vorschläge von links werden von den Rechtsbürgerlichen ohne Wenn und Aber in den Boden gestampft. Forderungen von rechts werden von der radikalen Linken verteufelt. Aus Prinzip. Das Prinzip verhindert tragfähige Kompromisse. Ein Politiker, der sich deutlich und lauthals vom anderen Pol abgrenzt, wird gerne mit einem „klaren Profil“ betitelt, von den nahe stehenden Medien gelobt und von der Wählerschaft belohnt. Und hier sind wir beim zweiten Grund für unsere kompromissarme Zeit: Wir erleben eine Zeit der medialen Polarisierung und des radikalen Auftritts von Politikerinnen und Politikern. Beliebt ist, wer möglichst schlagfertig in den Ring der Arena steigt, oftmals auf Kosten einer klugen, kompromiss- und tragfähigen Lösung des Problems. Doch Lösungen werden nicht vor laufender Kamera, sondern im Kommissionszimmer – nicht im Hinterzimmer – gesucht und gefunden. Dies gelingt nur, wenn eine überparteiliche Gruppe gemeinsam an den Details einer Reform feilen kann. Und genau darin besteht der Leistungsausweis von Konrad Graber: Ihm gelingt es seit vielen Jahren immer wieder, Kompromisse zu schmieden und damit unser Land weiter zu bringen. So auch jetzt bei der AHV-Steuervorlage, über die wir am 19. Mai abstimmen. Etliche bisherige Kompromissvorschläge sind gescheitert. Während die Gegner der Vorlage weiter davon träumen, eine reine Unternehmenssteuerreform durchzubringen und dabei gleichzeitig einen AHV-Abbau auf Kosten der Rentnerinnen und Rentner riskieren, unterbreiten uns Bundesrat und Parlament einen klugen Kompromissvorschlag aus der Feder des abtretenden CVP-Ständerats Konrad Graber. Es ist zu hoffen, dass dieser Kompromiss vom Volk gut geheissen wird. Wenn Konrad Graber Ende 2019 die Politbühne verlässt, dann wird es umso wichtiger werden, Politikerinnen und Politiker zu wählen, welche ebenso unaufgeregt und ohne Profilierungssucht auftreten können und an dem arbeiten, worauf wir alle stolz sind: an unserer lösungsorientierten, kompromissfähigen direkten Demokratie. Publiziert am 29. April 2019 im Journal 21
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