Der Ukraine-Krieg ruft die historischen Wurzeln des Schweizerischen Roten Kreuzes in Erinnerung – und die Unabdingbarkeit von Freiwilligenarbeit.
Wir alle sind Brüder und Schwestern – «tutti fratelli»: Mit diesem Ausruf kommen die Frauen von Castiglione 1859 den verwundeten oder sterbenden Soldaten zu Hilfe, die nach der verheerenden Schlacht von Solferino zwischen dem Kaisertum Österreich und der französisch-sardischen Koalition im Feld liegen.Die Frauen versorgen die Männer unterschiedslos und unabhängig davon, auf welcher Seite sie gekämpft haben – so wird es Henry Dunant später in seinen «Erinnerungen an Solferino» beschreiben. Ihr menschlicher und solidarischer Einsatz inspiriert Dunants Vision eines weltumspannenden humanitären Netzwerks. 1863 nimmt es mit der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz seinen Anfang. Überlagernde KrisenHenry Dunant, dessen Geburtstag am 8. Mai gefeiert wird, ist mit seiner Vision aktueller denn je. Die letzten drei Jahre haben uns mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, dass Gesundheitskrisen, Naturkatastrophen oder bewaffnete Konflikte alle treffen können. Die Folgen sind gewaltig und humanitäre Einsätze notwendiger und komplexer denn je. Die Katastrophen sind nicht nur für sich gravierend. Immer häufiger überlagern sie sich und haben überregionale, ja globale Auswirkungen. So verursacht der Ukraine-Krieg nicht nur in Europa enormes Leid. Die steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreise führen weltweit zu mehr Armut. Überall – auch in der Schweiz – sind es die schwächsten Bevölkerungsgruppen, die von den Folgen am stärksten betroffen sind. Um sich anzupassen und ein Leben in Gesundheit und Würde zu führen, fehlen vielen Menschen die Mittel und Ressourcen. Unsicherheiten und Ängste wachsen, das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen schwindet. Angesichts der immensen Herausforderungen fühlt sich ein grosser Teil der Gesellschaft oft machtlos, und daraus wird mancherorts Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung. Dazu kommen Fehlinformationen und Hassreden, die auf Social Media und anderen digitalen Plattformen verbreitet werden und zu gesellschaftlicher Polarisierung führen. Umso wichtiger ist es, an die Kraft der Menschlichkeit zu erinnern. Der Weltrotkreuztag bietet Gelegenheit, den Glauben zu teilen, dass jeder Mensch einen Teil zu einer lebenswerten Zukunft für alle beitragen kann. Unabdingbare FreiwilligenarbeitIn der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung setzen sich mehr als 14 Millionen Freiwillige für verletzliche Menschen ein. Sie orientieren sich dabei an den universellen humanitären Grundsätzen der Menschlichkeit, der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit. Damit tragen sie ein Zeichen der Hoffnung und Zuversicht in die Welt. Auch in der Schweiz widmen sich Rotkreuz-Freiwillige mit Passion und Überzeugung der Unterstützung ihrer Mitmenschen – an insgesamt rund 2,7 Millionen Stunden pro Jahr. Dazu ist politischer Rückhalt nötig. Gemeinsam mit anderen Freiwilligenorganisationen setzen wir uns für die systematische Förderung von freiwilligem Engagement und für entsprechende Rahmenbedingungen und Strukturen ein. Gesellschaften sind auf Freiwilligenarbeit angewiesen. Diese fördert soziale Teilhabe und Integration, ermöglicht zwischenmenschliche Begegnungen und stärkt die gesellschaftlichen Bande. Das geschieht nicht von allein. Auch 164 Jahre nach der Schlacht von Solferino ist klar: Sich unterschiedslos allen zuzuwenden, stellt noch immer keine Selbstverständlichkeit dar. Umso mehr ist es eine menschliche Notwendigkeit. Publiziert am 8. Mai 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung
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