Der Ukraine-Krieg ruft die historischen Wurzeln des Schweizerischen Roten Kreuzes in Erinnerung – und die Unabdingbarkeit von Freiwilligenarbeit.
Wir alle sind Brüder und Schwestern – «tutti fratelli»: Mit diesem Ausruf kommen die Frauen von Castiglione 1859 den verwundeten oder sterbenden Soldaten zu Hilfe, die nach der verheerenden Schlacht von Solferino zwischen dem Kaisertum Österreich und der französisch-sardischen Koalition im Feld liegen.Die Frauen versorgen die Männer unterschiedslos und unabhängig davon, auf welcher Seite sie gekämpft haben – so wird es Henry Dunant später in seinen «Erinnerungen an Solferino» beschreiben. Ihr menschlicher und solidarischer Einsatz inspiriert Dunants Vision eines weltumspannenden humanitären Netzwerks. 1863 nimmt es mit der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz seinen Anfang. Überlagernde KrisenHenry Dunant, dessen Geburtstag am 8. Mai gefeiert wird, ist mit seiner Vision aktueller denn je. Die letzten drei Jahre haben uns mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, dass Gesundheitskrisen, Naturkatastrophen oder bewaffnete Konflikte alle treffen können. Die Folgen sind gewaltig und humanitäre Einsätze notwendiger und komplexer denn je. Die Katastrophen sind nicht nur für sich gravierend. Immer häufiger überlagern sie sich und haben überregionale, ja globale Auswirkungen. So verursacht der Ukraine-Krieg nicht nur in Europa enormes Leid. Die steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreise führen weltweit zu mehr Armut. Überall – auch in der Schweiz – sind es die schwächsten Bevölkerungsgruppen, die von den Folgen am stärksten betroffen sind. Um sich anzupassen und ein Leben in Gesundheit und Würde zu führen, fehlen vielen Menschen die Mittel und Ressourcen. Unsicherheiten und Ängste wachsen, das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen schwindet. Angesichts der immensen Herausforderungen fühlt sich ein grosser Teil der Gesellschaft oft machtlos, und daraus wird mancherorts Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung. Dazu kommen Fehlinformationen und Hassreden, die auf Social Media und anderen digitalen Plattformen verbreitet werden und zu gesellschaftlicher Polarisierung führen. Umso wichtiger ist es, an die Kraft der Menschlichkeit zu erinnern. Der Weltrotkreuztag bietet Gelegenheit, den Glauben zu teilen, dass jeder Mensch einen Teil zu einer lebenswerten Zukunft für alle beitragen kann. Unabdingbare FreiwilligenarbeitIn der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung setzen sich mehr als 14 Millionen Freiwillige für verletzliche Menschen ein. Sie orientieren sich dabei an den universellen humanitären Grundsätzen der Menschlichkeit, der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit. Damit tragen sie ein Zeichen der Hoffnung und Zuversicht in die Welt. Auch in der Schweiz widmen sich Rotkreuz-Freiwillige mit Passion und Überzeugung der Unterstützung ihrer Mitmenschen – an insgesamt rund 2,7 Millionen Stunden pro Jahr. Dazu ist politischer Rückhalt nötig. Gemeinsam mit anderen Freiwilligenorganisationen setzen wir uns für die systematische Förderung von freiwilligem Engagement und für entsprechende Rahmenbedingungen und Strukturen ein. Gesellschaften sind auf Freiwilligenarbeit angewiesen. Diese fördert soziale Teilhabe und Integration, ermöglicht zwischenmenschliche Begegnungen und stärkt die gesellschaftlichen Bande. Das geschieht nicht von allein. Auch 164 Jahre nach der Schlacht von Solferino ist klar: Sich unterschiedslos allen zuzuwenden, stellt noch immer keine Selbstverständlichkeit dar. Umso mehr ist es eine menschliche Notwendigkeit. Publiziert am 8. Mai 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung
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Dies Academicus Theologische Hochschule Chur, Festvortrag
24. Oktober 2022 Barbara Schmid-Federer, Präsidentin SRK Einleitung Am 25. Juni 1859 beleuchtete die Sonne eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken lässt. «Das Schlachtfeld von Solferino war allerorten bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden.» Mit diesen Worten beschrieb der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant seine Erlebnisse in Solferino, wo am Abend zuvor die Armeen Frankreichs, Sardiniens und Österreichs aufeinandergeprallt waren. Es herrschte Krieg in Europa. Dunant war betroffen, er war erschüttert von dem, was er sah. Er vergass seine Reisepläne, suchte Freiwillige und half, ohne zu fragen, wem. Diese Tat, diese gelebte Menschlichkeit wurde zum Grundstein für das Handeln von heute 80 Mio. Mitgliedern und Freiwilligen weltweit, die im Namen des Roten Kreuzes das Erbe Dunants weitertragen. Dunant wurde – auf Drängen der Baronin von Suttner - zum ersten Träger des Friedensnobelpreises überhaupt. Allerdings: Dunant als Person hat sich mit seiner Heldentat in Solferino – so stellte sich später heraus – nicht nur seine berufliche Karriere verdorben; der Kaufmann aus gutem Hause stürzte in späteren Jahren sowohl wirtschaftlich wie auch gesellschaftlich tief; ein hoher Preis für eine explizite Hinwendung zu Mitmenschen im Sinne der Diakonie oder im Sinne der Nächstenliebe, der Caritas. Helfen, ohne zu fragen wem Für eine christliche Institution wie die theologische Hochschule Chur, bzw. für die katholische Kirche überhaupt, mutet der Grundsatz «Helfen, ohne zu fragen, wem» vertraut, ja gar selbstverständlich an. Die hiesigen Landeskirchen haben dieses Helfen zu einem grossen Teil an gute Organisationen wie «Caritas» oder «Fastenaktion» delegiert. Diese kümmern sich um die Menschen am Rande der Gesellschaft, bzw. die Verletzlichsten. «Helfen, ohne zu fragen, wem», war aber zur Zeit Dunants keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: medizinische oder pflegerische Hilfe gegenüber Soldaten wurde bis zu jenem Zeitpunkt lediglich für die Kämpfer der eigenen Nation geleistet – wenn überhaupt. Nur so lässt sich erklären, dass Dunant’s Aufruf, «Tutti Fratelli», also «alle Menschen auf dem Schlachtfeld sind Brüder» und «wir kümmern uns um sie alle, unabhängig davon, welcher Nation sie angehören», bis heute als berühmte Aussage genannt wird. Dieser Ansatz war im Umgang mit Schlachten und Kriegen schlicht und einfach revolutionär. Unter dem berühmten Motto "Tutti fratelli" schenkten die hilfsbereiten Frauen von Solferino den österreichischen Besatzern die gleiche Fürsorge wie den franko-sardischen Befreiern. Den geneigten Zuhörerinnen und Zuhörern ist vielleicht aufgefallen, dass Papst Franziskus eine Enzyklika geschrieben hat mit dem Titel «Fratelli Tutti», in dem Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft angemahnt werden. Offensichtlich wurde oder wird beiderorts der gleiche Traum geträumt. Dieser Geist der Nächstenhilfe ist dem christlichen Denken inhärent, so auch dem von Dunant, welcher in einem sehr frommen Umfeld in der calvinistischen Stadt Genf aufgewachsen ist. Als er "Eine Erinnerung an Solferino" schrieb, äusserte er, dass er von Gott inspiriert worden sei. Das Buch selbst enthält jedoch keine explizite religiöse Konnotation. Dunant vermied es, dem Buch einen religiösen Charakter zu geben, denn das Rote Kreuz hat von Anfang an einen universellen Anspruch. Ebenso bedeutet das rote Kreuz in der Flagge explizit nicht das Kreuz Christi, sondern wurde in Anlehnung an den Staat Schweiz, dem Ursprungsort der Rotkreuzbewegung kreiert. Das Handeln des politisch und religiös neutralen Roten Kreuzes basiert einzig und alleine auf den sieben Rotkreuzgrundsätzen: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Der helfende Dunant, der von seiner Mutter gelernt hatte, sich gegenüber den Schwachen solidarisch zu zeigen, ist für mich zum Bild, zum Vorbild geworden, denn er war ein Trendsetter, der damaligen Zeit weit voraus. Wenn ich vor vielen Jahren mich erstmals an der Betreuung eines kriegsverwundeten 11-jährigen Jungen in Addis Abeba beteiligt habe, so tat ich das, was Dunant damals vorgespurt hatte. Als SRK-Präsidentin möchte ich dieses Bild in die moderne Schweiz tragen. Heute trage ich es hierher: ein kritisches Hinterfragen hier in einer kirchlichen Hochschule, in kirchlichen Kreisen: Im Folgenden soll die Motivation des Rotkreuz- und Rothalbmondhandelns aus drei verschiedenen Perspektiven erläutert werden:
1. Die Not Not SRK Die Rotkreuzbewegung unterscheidet sich von anderen humanitären Organisationen unter anderem deshalb, weil weltweit 192 nationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Gemeinschaften Menschen in Not helfen. Konkret: Es gibt ein Ukrainisches Rotes Kreuz, ein Russisches Rotes Kreuz oder auch den syrischen Roten Halbmond. Wir sind politisch neutral und beziehen in Konflikten keine Position. Das Schweizerische Rote Kreuz, welches in rund 30 Ländern im Ausland im Einsatz ist, ist mit den nationalen Gesellschaften vernetzt. Gemäss unserer Strategie gehen wir als SRK nicht zu den nationalen Gesellschaften und sagen ihnen, was sie zu tun haben, sondern wir arbeiten nach dem Prinzip des «National Society Development», d.h. wir unterstützen die Gesellschaften vor Ort in ihren Tätigkeiten bei der Armutsbekämpfung oder der Präventionsarbeit mit dem Ziel, dass sie selber möglichst effektvoll Hilfe vor Ort leisten können. Wir setzen uns an der Stelle ein, wo eine nationale Gesellschaft uns um Hilfe bittet, weil bei ihnen die Not am grössten sei. Äthiopien beispielsweise ist ein Land, in dem mehrere Krisen nebeneinander existieren: der Krieg zwischen der äthiopischen Regierung und der abtrünnigen Region Tigray, extreme Trockenheit, Überschwemmungen, Erdrutsche, Seuchen, Covid 19. Handeln, wo Not herrscht, erfordert Mut oder – anders gesagt – erfordert die Beachtung des Prinzips der Unabhängigkeit: es bedeutet etwas zu tun, nicht nur, worauf die Medien sich konzentrieren, sondern auch etwas tun für die vergessenen verletzlichen Menschen. Als SRK Präsidentin will ich nun versuchen, - auch wenn dies für eine Romanistin an einer theologischen Hochschule durchaus gewagt ist, - eine Auslegung des Samaritergleichnisses (Lukas 10), aus Perspektive der grössten humanitären Organisation Rotes Kreuz zu entwickeln. Auf die Frage an Jesus, «wer ist mein Nächster», erwähnt er mit keinem Wort Gott. Ausgangspunkt ist die Not des am Boden liegenden Menschen. Fasziniert stelle ich anschliessend den Perspektivenwechsel fest: Lukas 10, 36 «Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde»? Dieser Perspektivenwechsel ist für das SRK matchentscheidend: Wem werde ich in der Notsituation der oder die Nächste? Das entscheide ich parteiunabhängig. Ich entscheide situativ, dort wo der Hunger herrscht, also dort, wo die entsprechende nationale Rotkreuzgesellschaft um Hilfe ruft. Situativ heisst konkret: In der Ukraine, wo Menschen auf die Flucht gehen oder eben in Äthiopien, wo es selbst für gestandene Kenner der Entwicklungszusammenarbeit schwerfällt, an das Gute zu glauben. In der Schweiz helfen wir da, wo Frau Müller auf den Notrufknopf angewiesen ist. Die Frage ist handlungsleitend, sie ist normativ, sie ist strukturell. Hilfe für verletzliche Menschen ist oft gepaart mit politischen Spannungen. Beispiel Meditrina, die medizinische Anlaufstelle für Sans Papiers in Zürich: In zum Bistum Chur gehörenden Kanton Zürich leben 2000 – 3700 Sans Papiers. Menschen ohne Ausweis. Die meisten von ihnen leben und arbeiten verlässlich und fleissig im Versteckten. Müssten sie eigentlich den Arzt aufsuchen, gehen sie dieses Risiko meist nicht ein. Dies wiederum wird zum Risiko für die gesamte Gesellschaft, denn Ansteckungen finden so ohne Kontrolle statt. Das SRK ist da, mit der medizinischen Anlaufstelle für Sans Papiers, mit einem Netzwerk von freiwilligen Ärzten, welche sich um die Patientinnen und Patienten kümmern. Diese Anlaufstelle ist politisch umstritten, doch kaum jemand schaut hin, denn der Staat ist froh, dass es uns gibt. Würden wir die Meditrina schliessen, hätte der Staat ein Problem. Welch grosse strategische Frage steht hinter der Frage nach der Not? Wer sind wir im Gleichnis des barmherzigen Samariters: Der barmherzige Samariter selber sind wir nicht mehr. Existenzsicherung ist Aufgabe des Staates. Bin ich das Wirtshaus? Es gibt diakonische Werke. Es gibt Häuser, die fremdes Geld verwalten (Ihre Kirchensteuer). Sind wir der Esel? Heute gibt es den SRK Fahrdienst oder das kirchliche Hilfswerk miva. Ich sage Ihnen: Weder als Samariterin, noch als Wirtshaus: als SRK Präsidentin bin ich jene, die die Geschichte erzählt – und sie muss immer wieder erzählt werden. Wem: Den Politikerinnen, den Politikern, den Kantonalverbänden, den Rettungsorganisationen, in der Nachfolge von Henry Dunant, Ihnen. Das mache ich stets aufgrund der sieben Rotkreuzgrundsätze, wobei die «Menschlichkeit» unter den 7 über allen anderen Grundsätzen steht: Alle anderen Grundsätze können nur verstanden werden, wenn von der Menschlichkeit als oberstes Prinzip ausgegangen wird. Not Kirche Doch was ist Ausgangspunkt der Kirche, wenn sie aus christlicher Sicht das Helfen begründen will? Ich wage zwei Aussagen: Die Würde in jedem Menschen zu erkennen, ebenfalls ein geliebtes Kind Gottes zu sein. So gesehen sind Christen auch mit den Nicht-Getauften zusammen eine Menschheitsfamilie, sie sind alle Schwestern und Brüder. Ausgangspunkt des Handelns in der Kirche als Institution ist ebenfalls die Not. Ihr Helfen begründet, motiviert und leitet sie von der jüdisch-christlichen Tradition ab. Jüdisch deshalb, weil die christliche Nächstenliebe das jüdische Erbe ist. Christliche Nächstenliebe ist nicht exklusiv christlich, sondern konstitutiv christlich. Caritas, verstanden als christliche Nächstenliebe, ist nicht exklusiv katholisch, sondern für die katholische Kirche konstitutiv. 2. Das Geld Das Geld SRK Wenn Henry Dunant Krieg in Europa erlebt hat, so tun wir dies heute ebenfalls. Die Parallelität provoziert die Frage nach dem benötigten Geld für die humanitäre Hilfe. Keine Angst, die Frage von Steuern bzw. Trennung von Kirche und Staat soll hier nicht diskutiert werden. Aber für das Helfen von Menschen in Not ist Geld unerlässlich. Beim heutigen Krieg in der Ukraine sind Mitarbeitende des Schweizerischen Roten Kreuzes unter dem Schutzschild des IKRK im Einsatz. Die Gefahr, der sie sich dabei aussetzen, ist die gleiche Gefahr, wie für die Zivilbevölkerung in der Ukraine ebenfalls: Die Sirene ertönt regelmässig, Schlaf ist oftmals nicht möglich, wo der Luftangriff stattfindet, ist schwer abzuschätzen. Und wie helfen diese Mitarbeitenden vor Ort? Sie erstellen die Logistik und sie bringen nebst benötigten Gütern Geld. Cash. Geld ist das wichtigste und effizienteste Gut, welches wir in die Ukraine einführen können, denn nur wenn Geld zufliesst, kann der lokale Markt am Leben erhalten werden. Nur wenn die Menschen vor Ort selber entscheiden können, wozu sie Geld ausgeben, können wir nachhaltig helfen. Das Schweizerische Rote Kreuz hat ein enorm grosses Spendenvolumen. Wir nehmen viel ein und wir geben viel aus. Fragen nach dem vielen Geld sind erlaubt. Wir nehmen Spendengelder ein vom Bund, von Kantonen, von der Wirtschaft, von Privaten und von öffentlichen Institutionen. Das Geld per se ist nicht «schmutzig». Die Ökonomie des sozialen Geldes ist Mittel zum Zweck und nie Zweck an und für sich. Das Geld hat stets einen «Inhalt», nämlich die Not des Menschen – und nicht Profit und Gewinnmaximierung für Investoren. Profitieren und gewinnen sollen immer nur die Menschen in Not. Ökonomie hat so gesehen die dienende Funktion inne, gegenüber sozialem Auftrag Not zu lindern. Diese Debatte können wir jetzt nicht führen. Das SRK kann jedoch einen wertvollen Beitrag leisten, damit Soziales nicht korrumpiert wird durch Ökonomie. Wir sind der Anwalt für «Pfuithemen». Wir wissen um die Korruptionsmacht des Geldes. Gier nach Macht und Geld macht korrupt. Wir überprüfen regelmässig, ob unsere Geldgeber unsere hohen ethischen Standards einhalten und setzen auf Transparenz. Hier sitzen wir bestimmt im gleichen Boot wie die Kirche. Wir müssen gemeinsam Mechanismen schaffen, damit das Geld zu den Verletzlichsten fliessen kann. Diesbezüglich können wir unser Bewusstsein gegenseitig schärfen. Geld Kirche Bei Ausbruch der Ukraine-Krise hat uns die katholische Kirche des Kantons Zürich finanziellen Support geleistet. Dafür sind wir sehr dankbar. Wenn ich einen Wunsch an die Kirche zu äussern hätte, dann das Anliegen, dass die Option für die Armen konkret ist, dass die Kirche Partei ergreift für die Bedürftigen. Esspakete für Gestrandete zu verteilen ist wichtig. Aber die caritative Hilfe muss begleitet sein von einem öffentlich vernehmbaren Engagement beispielweise gegen den menschenunwürdigen Status von Sans Papiers. Dass der Staat bei der medizinischen Versorgung von Sans Papiers wegschaut, ist nachvollziehbar. Wenn es die Kirche tut, gerät diese jedoch in Erklärungsnot. Der barmherzige Samariter im Gleichnis Jesu hat dem Wirten Geld gegeben, damit dieser den Verwundeten auch noch nach dem Weggang des Samariters pflegen kann. Wer viel hat, soll viel geben und wer wenig hat, gibt wenig. So habe ich persönlich die religiöse Erziehung erfahren. Wenn wir einmal anerkennen, dass Armut und Not auch in der Schweiz allgegenwärtig sind, dann gilt dieses Prinzip erst recht. Dann gibt die arme Witwe, welche gemäss Jesus zwei kleine Kupfermünzen gespendet hat, viel mehr als andere. Daran sollen wir uns, soll sich das SRK und soll sich auch die Kirche ein Beispiel nehmen. Wer viel hat, soll viel ausgeben – an die Armen. Armut in der Schweiz ist heute verdeckt. Die Armen leben unter uns, aber wir erkennen sie nicht. Wie sollen wir ein Engagement für Arme und Ausgegrenzte wahrnehmen, wenn wir sie nicht sehen? Daher ist es eine Aufgabe, die nicht nur an eine Sozialarbeiterin delegiert werden kann, dass wir die Augen öffnen und sensibel werden für die kleinen Hinweise. Oft besteht die Not auch darin, dass Menschen nicht mehr in Kommunikation mit der Mitwelt sind: Kein Internet, keine Vereinszugehörigkeit und vor allem die Kinder müssen sich von allen möglichen Angeboten mit fadenscheinigen Ausreden verabschieden. Hier ist die Stärke der Gemeindediakonie: Erkennen der Not und niederschwellige Angebote machen, die niemanden ausgrenzen. Hierzu benötigen wir die Mittel der Kirche. Die Kirche darf sich ihren Auftrag immer wieder vor Augen halten: Die katholische Kirche hat sich am 2. Vatikanischen Konzil nicht zuletzt unter dem Einfluss der jungen Kirchen Lateinamerikas zur „Option für die Armen“ entschieden. In dieser Tradition steht auch der Südamerikaner Papst Franziskus. Kirchliches Handeln ist immer auch daran zu messen, was es für die Armen, Kranken, Randständigen bewirkt. Diakonie, d.h. allgemein menschliches Hilfehandeln, begründet und motiviert als christliche Praxis, ist eine der vier grundlegenden Feldern von Kirchsein: Liturgie, Diakonie, Verkündigung und Koinonia. Im Zusammenspiel mit dem Staat, mit dem Markt von NGO’s und humanitären Organisationen und mit Familien wirkt die Institution Kirche mit ihren Pfarreien im Sozialraum mit ihren drei Kapitalien: Öffentliche Gebäude und Kirchen an bester Lage, ein unglaubliches Freiwilligennetz und ein christliches Menschenbild, das den Menschen nicht instrumentalisiert, auch nicht missionarisch, sondern ihn als Ebenbild Gottes, als Geschöpf Gottes in seiner Freiheit und Verantwortung achtet und bevollmächtigt. 3. Das Schlachtfeld Schlachtfeld SRK Das Schlachtfeld von Solferino ist Ausgangspunkt für die Entstehung der Rotkreuzbewegung. Das moderne Rote Kreuz ist aber eine Institution, die nicht rückblickend die Tradition als Mausoleum verehrt. Tradition ist für uns das «Start up Programm», um prospektiv Suchbewegungen zu lancieren, zukünftige Felder abzustecken, wo Menschen verletzt oder getötet werden oder aber hungern. Es zeichnet sich jetzt schon ab, bzw. die Bewegung hat bereits begonnen, dass weltweit grosse Scharen an Menschen aufgrund des Klimawandels zur Flucht gezwungen werden. Das Rote Kreuz muss solche Entwicklungen antizipieren und in seiner Strategie integrieren. Armut mit Migrationshintergrund, also Flüchtlinge, bleiben auf der Agenda der Schlachtfelder bestehen. Flucht ist ein politisch angeschlagener Begriff, der nicht selten die westliche Gesellschaft entzweit. Dieser Trend wurde seit langem zum ersten Mal unterbrochen, als ein neues Schlachtfeld in der Ukraine entstand. Die neu gelebte Einigkeit im Umgang mit den Opfern des Krieges lässt hoffen auf mehr. Wenn wir immer betonen, dass das Rote Kreuz politisch neutral ist, so gibt es unter der Schirmherrschaft der «Menschlichkeit» stets die klare und auffordernde Ausnahme, dass wir unsere Stimme dann erheben, wenn die Menschlichkeit mit Füssen getreten oder das humanitäre Völkerrecht verletzt werden. Die Stimme für die Armen, das müssen wir trotz aller politischen Neutralität – oder gerade deswegen - bleiben. Der Ukraine-Krieg hat europaweit eine beispiellose Solidaritätswelle ausgelöst. Als ich zu Beginn des Kriegs das Bundesasylzentrum in Zürich besuchte, stellte ich fest, dass erfreulicherweise sehr viel Aufwand betrieben wurde, um die ukrainischen Familien so rasch als möglich in Gastfamilien unterzubringen. Es herrschte grosser Betrieb diesbezüglich. Unten im Hof des Zentrums standen junge Männer aus Afghanistan, welche keine solche bevorzugte Behandlung erhielten. Sie wurden nicht beachtet. Ich kenne persönlich einen Afghanen, der die Flucht in Angriff genommen hat. Er war an Leib und Seele bedroht und flüchtete teilweise unter Todesgefahr. Seine Hände zeigen noch Schwielen von der Bootsfahrt über das Mittelmeer. Dieser freundliche, fleissige Mann müsste die gleichen Rechte erhalten wie die Ukrainer; wir vom SRK dürfen zwischen den beiden Flüchtlingsströmen nicht unterscheiden, weshalb wir ihnen allen helfen, wenn sie in Not sind. Auch das ist meine Mission als SRK-Präsidentin. Schlachtfeld Kirche Es gibt Strömungen innerhalb der Landeskirchen, welche sich explizit dagegen aussprechen, Menschen nicht christlichen Glaubens in die Schweiz einreisen zu lassen. Begründung: Wir wollen das Christentum erhalten und keine schleichende Islamisierung der Schweiz dulden. Dies bringt mich zurück auf das Gleichnis des barmherzigen Samariters: Aus meiner persönlichen Sicht ist die Botschaft des Samariters explizit die Aussage, dass derjenige, der dem Notleitenden zur Hilfe wird, der Nächste ist und nicht derjenige, der Christ oder gar Priester ist. Ich bin klar der Meinung, dass das Exempel des Samariters dazu verwendet wird, dass nur die Tat der Hilfe entscheidend ist, nicht aber die Herkunft oder Religion des Opfers. Beim «sich kümmern» um Menschen in Not, ist uns die katholische Kirche oftmals ein guter und verlässlicher Partner. Gräben tun sich wie erwähnt dort auf, wo Politik oder Teile der Kirchen die Hilfe auf Notleidende christlichen Glaubens reduzieren wollen. Die Gleichbehandlung von Flüchtlingen ist aktuell ein heisses Eisen in Politik und Gesellschaft. Ohne dass wir deswegen mit lauten Tönen von uns hören lassen, sind wir in ständigem vertraulichen Dialog mit den Behörden, um die Ungleichbehandlungen zu benennen. Auch das ist das SRK: Wir handeln, wir helfen, Not zu lindern. Was können Einzelne, was kann die Kirche tun? Als bald 57-jährige Frau habe ich mein Leben lang aktiv miterlebt, wie die Zivilgesellschaft, die NGO’s, die Politik und die Kirche zusammen Menschen in Not begleiten. Alle Einzelne geraten auch immer wieder an ihre Grenzen. Gemeinsam sind wir eindeutig stärker. Die Option für die Armen ergreift nicht exklusiv die Kirche, die Kirche interpretiert diese Option aus einem christlichen Menschenbild undsetzt dabei auch ihre Räume und Ihr Freiwilligennetz ein. Menschen, die auch in der Schweiz gesellschaftlich durch die Maschen fallen, fallen oftmals auch aus dem politischen, dem behördlichen Rahmen. Nicht selten springt die Zivilgesellschaft ein. Das SRK setzt nicht auf das christliche Menschenbild, sondern auf eine explizite Menschlichkeit im universalen Sinn. Da der Gründer des SRK ein frommer calvinistischer Kaufmann war, ist das SRK von der kirchlichen Resonanz in Schwung gesetzt worden. Die katholische Kirche – so sei es mir an dieser Stelle erlaubt zu benennen – hat keine einfache Zeit. Ihre öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich aktuell auf Themen der Dissonanz, auf Missbrauchsgeschichten, Streitereien um die Rolle der Frau oder auf den Umgang mit der Homosexualität. Lauter Diskussionen um die eigene Organisation. Es wird zwar postuliert, man wolle für die Menschen da sein, aber das Bild, das die Kirche öffentlich abgibt, suggeriert, dass sie vor allem für sich selbst da ist. Sie erscheint selbstgenügsam. Ich gehe davon aus, dass die katholische Kirche diese Probleme lösen will, ansonsten erleidet sie einen fortlaufenden Verlust an Glaubwürdigkeit. Es liegt nicht an mir, der Kirche gute Ratschläge zu geben. Aber ein Appell sei erlaubt, sie zu ermuntern, sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu positionieren, sei es hinsichtlich der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich, sei’s in der Frage zur Ungleichbehandlung von Flüchtlingen. Kirchen und NGO’s tun gut daran, sich besser zu vernetzen. Wenn das SRK bei der Aktion «zweimal Weihnachten» Geschenke für Bedürftige sammelt, werden diese Geschenke nicht selten von Kirchgemeinden an die Betroffenen abgegeben. So sieht gute Zusammenarbeit aus. Das SRK hilft in der Not und in der Prävention. Dies tut auch die Kirche. Im Unterschied zu unserer Organisation hat die Kirche aber die einmalige USP, dass sie den Menschen auch spirituell-moralisch beistehen soll, kann und tut. Das Bewusstsein für die Caritas ist nicht einfach selbstverständlich, sondern braucht immer wieder eine Grundlage. Ob es hier nicht auch eine grosse Not gibt, auf die spezifisch die Kirche eingehen soll? Erlauben Sie mir, wenn es um die Frage der Vision der Kirche geht, auf die Vision des Jesuitenpaters Antonio Spadaro zu verweisen, der ein Freund von Papst Franziskus ist: Er träumt von einer Kirche als Mutter und als Hirtin. Er meint, die Diener der Kirche müssten barmherzig sein, sich der Menschen annehmen, sie begleiten – wie der gute Samariter, der seinen Nächsten wäscht, reinigt, aufhebt. Die Diener des Evangeliums müssten gemäss Spadaro in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Schluss Zum Schluss beantworte ich die im Einladungsflyer gestellten Fragen aufgrund meines Vortrags:
Wie Sie sich als Kirche und als Universität auf den gesellschaftlichen und technologischen Wandel vorbereiten, ist Ihre Verantwortung. Wir vom SRK verfolgen drei Ziele:
Der Einsatz für die Verletzlichsten ist harte Arbeit, die nicht selten als politisch verunglimpft wird. Das braucht Mut und Durchhaltevermögen. Wie Sie als Kirche diesen Mut nähren und sich im Durchhalten einüben, ist Ihr Geschäft. Dieses betreiben sie mit Kirchenräumen an besten Lagen, mit einem Freiwilligennetz und mit einem christlichen Menschenbild und nicht mit Machtpolitik. Ich habe einen Traum für das SRK:
Lassen Sie mich schliessen mit einem Zitat von Henry Dunant in dessen Muttersprache: „Les générations présentes transmettent aux générations futures les idées qu’elles ont reçues avec des développements toujours nouveaux, avec de nouvelles applications (…) car nous naissons tous ouvriers de cette grande cité de Dieu qui s’appelle l’humanité. » Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Es gilt das gesprochene Wort. Der Augenschein an einem heutigen Brennpunkt der Migration erinnert daran: Die Weihnachtsgeschichte ist eine Fluchtgeschichte.
In der meist hektischen Adventszeit nehme ich mir jeweils Zeit, um über das vergangene Jahr nachzudenken. Was hat mich geprägt? Gibt es ein Ereignis, eine Begegnung, die mich verändert hat, gerade in meiner Beziehung zu anderen Menschen? Dieses Jahr gab es ein solches Ereignis. Es hat mich und meine Familie nachhaltig beeindruckt und geprägt. Mehr noch, es hat uns den tieferen Sinn der Weihnachtsgeschichte einmal mehr nahegebracht. Ein griechischer Freund von uns betreibt ein eigenes Flüchtlingshilfswerk. Da er weiss, dass ich mich seit vielen Jahren für Menschen in Notsituationen engagiere, fragte er mich, ob ich Interesse hätte, mit meiner Familie ein Flüchtlingslager in Athen zu besuchen. Zufälligerweise passte es uns allen. Zudem erfuhr ich, dass ein befreundeter Schweizer Fachexperte für Migrationsfragen ebenfalls in Griechenland sei. Seit über zwanzig Jahren verbringt er mehrere Wochen pro Jahr auf Lesbos und unterstützt mit einer Hilfsorganisation Flüchtlinge. Dieser Migrationsfachmann brachte uns mit «Lesbos Solidarity» in Verbindung, einer Organisation, die einen Laden betreibt, der Handarbeiten von Flüchtlingen verkauft. Da gibt es zum Beispiel Taschen, die aus den Schlauchbooten hergestellt werden, mit denen die Menschen, manche mit ihren Kindern, übers Meer gekommen sind. Im grossen Haus von «Lesbos Solidarity» erhalten die Kinder auch Unterricht. Angesichts der Corona-Situation findet er aber nur unregelmässig statt. Katastrophale Verhältnisse Lesbos ist eine wunderschöne Insel, ein idyllisches Ferienparadies – bis man die Überreste des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria 1 sieht. Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Es lagen Kindersachen herum, die nicht verbrannt waren, eine Babytragtasche etwa. Ich stellte mir die Familie vor, die ihr Kleinkind in dieser Tasche übers Mittelmeer gebracht hatte. In den Überresten fanden sich auch Kinderstiefel. Wem sie wohl gehört hatten? Welche Strapazen, welche Ängste und Unsicherheiten hatten diese Frauen, Männer, Jugendlichen und Kinder aushalten müssen! Dann, angekommen im Flüchtlingslager, mangelte es an allem: an Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und Toiletten. Wenn es regnete, versank alles im Sumpf. Niemand will mit seinen Kindern in derart katastrophalen und unzumutbaren Verhältnissen leben. Die neuen Anlagen sind von Stacheldraht umgeben. Das Flüchtlingslager ist besser geschützt als der Flughafen von Athen. Geht man so mit Menschen um, die schutzbedürftig und meist traumatisiert sind? Bräuchten sie nicht vielmehr Mitgefühl, Solidarität und menschliche Wärme anstelle von Stacheldraht? Das Unverständnis und die Wut, die in mir hochstiegen, haben sich bis heute nicht gelegt. Auch wenn in Athen, das wir ebenfalls besuchten, die Flüchtlinge in Containern untergebracht sind, die wenigstens auf festem Boden stehen. Schwindende Solidarität – und ein Lichtblick Natürlich gibt es zahlreiche Freiwillige wie unseren Freund. Sie helfen den ankommenden Männern und Frauen und bereiten sie auf das Leben in Griechenland vor. Doch Griechenland ist nicht in der Lage, die Grundbedürfnisse der vielen Geflüchteten abzudecken. Dies auch deshalb, weil die Regierung in Athen von anderen Staaten zu wenig Unterstützung erhält. In der Folge werden die Flüchtlinge sich selbst überlassen. Etliche Familien leben in Athen und Umgebung auf der Strasse, ohne finanzielle oder soziale Unterstützung. Natürlich gibt es auch einzelne, die es schaffen und tatsächlich Arbeit und eine Wohnung finden. Andere fassen irgendwann Fuss in anderen europäischen Staaten. Allerdings habe ich vielfach gehört, dass die Solidarität der Einheimischen, die früher auf Lesbos sehr stark war, inzwischen praktisch verschwunden sei. Das hat auch mit den Folgen der Pandemie und der Finanzkrise zu tun, die gerade der Insel Lesbos stark zugesetzt haben. Ein Lichtblick ist das Restaurant Nan in Mytilinis, wo Geflüchtete arbeiten und die Einheimischen eine gelebte Solidarität an den Tag legen. Die Aktualität der Weihnachtsgeschichte Zurück in der Schweiz und kurz vor Weihnachten wird mir und meiner Familie klar, welche Aktualität die Weihnachtsgeschichte hat. Was wir in Griechenland gesehen haben, hat sich auch vor zweitausend Jahren ereignet. Maria und Josef mussten flüchten, um ihr Kind vor dem staatlich verordneten Terror des Königs Herodes zu schützen. Sie durchquerten die Wüste, die harte, endlos scheinende Wüste und erreichten in erschöpftem Zustand Ägyptens Grenze. Was hat Josef den Grenzwächtern dort erzählt? Etwa, dass ihr Kind verfolgt werde? Oder dass König Herodes das Kind bei der Rückkehr töten würde? Papiere hatten sie wohl keine dabei. Musste Josef einen Schlepper bezahlen, um mit der Familie die Grenze zu überwinden? Wie und wovon haben sie in Ägypten gelebt? In einem Flüchtlingslager? Diese universelle Geschichte, die an Weihnachten erzählt und gesungen wird, ist Alltag für die Flüchtlinge, die ich dieses Jahr auf der Insel Lesbos und in Athen getroffen habe. Das abgebrannte Flüchtlingscamp Moria ist Zeuge der Verzweiflung über die menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Auch im heutigen neuen Camp fehlt es nach wie vor an den wichtigsten Lebensgrundlagen: Menschen müssen in Zelten und Containern in Dreck, Schmutz und Schlamm hausen. Die Zelte sind undicht, die hygienischen Bedingungen katastrophal, das Essen ist ungeniessbar. Das Schlimmste ist aber die fehlende Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge. Die Camps sind als eigentliche Gefängnisse mit Zäunen und Stacheldraht gesichert. Menschenrechte und Menschenwürde haben dort ihre Bedeutung verloren. Urkraft der Hoffnung Es ist kein Zufall, sondern Programm, dass sich die Weihnachtsgeschichte unterwegs auf der Flucht abspielt. Sie ereignet sich in der Fremde, wie auch die wichtigsten Aussagen der christlichen und jüdischen Religion aus der Auseinandersetzung mit dem Fremdsein hervorgehen: Gott hat sich dem Volk Israel gezeigt beim Exodus aus Ägypten; das Jesuswort «Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen» erklärt den Umgang mit Fremden zur Nagelprobe der Nächstenliebe. Die Weihnachtsgeschichte legt den Finger auf den wunden Punkt des menschlichen Daseins. Unser Blick soll sich auf diejenigen richten, die in Not sind. Ist es nun richtig, dass wir gleichwohl Weihnachten feiern und uns an dem idyllischen Bild des Neugeborenen in der Futterkrippe erfreuen? Ich meine: Ja. In diesem Bild drückt sich die Urkraft der menschlichen Hoffnung aus. Indem das Weihnachtsfest das neugeborene Kind in den Mittelpunkt stellt, verweist es auf die voraussetzungslose Liebe, die alle Menschen zum Leben brauchen und die allein das Negative überwindet. Die leere Babytragtasche in Moria wühlt mich noch immer auf. Als Mutter – und stellvertretend für alle Mütter – sehe ich im weihnächtlichen Kind etwas Universelles, in welchem es keinen Unterschied gibt zwischen einheimisch und fremd. Die Geburt in Bethlehem ist der Anfang einer Geschichte, die Gewalt, Ausgrenzung und Hass verwandelt in Achtsamkeit, Respekt und Fürsorge. Diese Geschichte ist nicht abgeschlossen. Wir können Teil von ihr sein – voller Zuversicht und über Grenzen hinweg. Publiziert am 24. Dezember 2021 auf Journal 21 Knapp ein Viertel der Schweizer Jugendlichen versteht gemäss Pisa-Studie am Ende der obligatorischen Schulzeit einfache Texte nicht, d.h. sie sind nicht in der Lage, relevante Informationen in Texten zu finden, geschweige denn, das Gelesene zu bewerten oder darüber zu reflektieren.
Die grosse Mehrheit dieser Jugendlichen hat in ihrer Kindheit ein zentrales Element für die Stärkung der Sprachkompetenz verpasst: Ihnen wurde im entscheidenden Alter ab Geburt bis 8 Jahren nicht vorgelesen. Dem will der Schweizer Vorlesetag, der dieses Jahr am 26. Mai 2021 stattfindet, entgegenhalten. An diesem Tag wird in der ganzen Schweiz vorgelesen. Die unterschätzte Zuhörkompetenz «Zuhören» ist uns nicht einfach gegeben, «Zuhören» müssen wir erlernen und zwar von Klein auf. Das «Zuhören» ist ein zentraler Faktor für das Erlernen des Spracherwerbs, für das Erlernen der Lese- und Schreibkompetenz. Ganz entscheidend für die Entwicklung der Zuhörkompetenz ist das Vorlesen, das in den Familien der Kinder stattfindet – oder eben nicht. Es wird immer wieder unterschätzt, wie stark Kinder durch das Zuhören in ihrer Konzentrationsfähigkeit gestärkt werden und inwiefern dies einen Einfluss auf die Entwicklung ihres Wortschatzes hat. Hören Kinder beim Vorlesen zu, erhalten sie ein Gefühl für zeitliche Abläufe und den Aufbau von Geschichten. Zusätzlich wird ihre Fantasie angeregt, wenn sie durch das Gehörte innere Bilder entwickeln, die sie schliesslich auch selber zum Ausdruck bringen können. Warum Vorlesen Wer seinen Kindern Geschichten vorliest, stärkt zuerst einmal die eigene Beziehung zum Kind, denn das gemeinsame Erlebnis und die Zeit, die miteinander verbracht wird, bietet den Kindern Nähe und Aufmerksamkeit. Vorlesen unterstützt aber auch die Entwicklung von sozialen und emotionalen Kompetenzen der Kinder. Geschichten bieten ihnen neue Weltsichten und Realitäten, an denen sie eigene Erfahrungen und Gefühle spiegeln können. Vorlesen regt zu Gesprächen über das Gehörte an. In dem über Geschichten gesprochen wird, können Kinder anteilnehmen, mitfühlen und Konflikte miterleben. Dies kann ihnen dabei helfen, eigene Probleme und Sorgen zu verarbeiten. Beim Vorlesen erwerben Kinder auf spielerische Art wichtige Fähigkeiten, die für das spätere Lesen und Verstehen von Texten wichtig sind: Sie nehmen unbewusst Erzähl- und Sprachmuster wahr, hören, wie Sätze gebildet werden und werden mit schriftsprachlichen Ausdrücken vertraut. Dadurch wird die Sprachkompetenz gestärkt, was dazu führt, dass sie besser Lesen und Schreiben lernen. Vorlesen schafft aber auch erste Berührungspunkte mit Literatur und führt Kinder an unsere Schrift- und Buchkultur heran. Indem wir Kindern (Bilder-)Bücher vorlesen, lassen wir sie an unseren Geschichten und unseren Erzählformen teilhaben und zeigen ihnen nach und nach unsere Welt. Wer vorliest, macht es vor: Lesen bereitet Freude! Wenn wir Kindern vorlesen, zeigen wir ihnen, wie packend die literarische Welt sein kann und wir machen sie neugierig auf all die unbekannten Welten, die in den Büchern verborgen liegen. Vorlesen trägt so zur Entstehung eines positiven Bezugs zum Lesen bei und fördert die Motivation am eigenen Lesen. Bildungschancen ausgleichen Kinder, denen nicht vorgelesen wird, starten demnach mit einem Nachteil ins Schulleben. Es ist im Interesse der gesamten Gesellschaft, diese Nachteile auszugleichen und so die vorhandenen Potenziale dieser Kinder zu nutzen. Dieser Ausgleich kann einerseits geschaffen werden, indem in Bildungseinrichtungen wie Kindergarten und Schulen durch entsprechende Angebote das aktive Zuhören und damit die Sprachentwicklung aller Kinder gefördert wird. Auf der anderen Seite sind kreative Ansätze wie der Schweizer Vorlesetag ein wichtiger Faktor, um dem Anliegen den nötigen Anschub zu geben. Das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, Initiant des Vorlesetags, möchte das Bewusstsein für die Wichtigkeit des Vorlesens schärfen und die Leserinnen und Leser dazu animieren, die Freude an Geschichten und an der Welt der Sprache weiterzugeben. Dabei sind alle Grosseltern, Familien, Paten und weiteren Interessierten dazu eingeladen, am Vorlesetag mitzumachen. Mitmachen ist dabei ganz einfach: Man muss sich dazu nur auf der Website des Schweizer Vorlesetags anmelden (www.schweizervorlesetag.ch) und versprechen, einem oder mehreren Kindern am 26. Mai 2021 eine Geschichte vorzulesen. Dabei ist allen Vorlesenden freigestellt, ob sie zu Hause im kleinen Kreis vorlesen oder sich eine Schulklasse, einen Kindergarten oder eine Spielgruppe suchen und dort vorlesen. Ich freue mich auf eine rege Teilnahme des Anlasses. www.schweizervorlesetag.ch Liebe Judith Stamm,
Vor 50 Jahren wurde das Frauenstimmrecht eingeführt. Das Zugestehen der politischen Rechte an die Frau verdanken wir in erster Linie Pionierinnen wie Dir. Von CVP-Frau zu CVP-Frau möchte ich Dir und Deinen zahlreichen Mitstreiterinnen von damals herzlich danken. Danken für Euer Engagement, Euren Mut und Eure Hartnäckigkeit. Die Gegnerinnen und Gegner des Frauenstimmrechts Eure damaligen Gegner – und auch Gegnerinnen – wollten kein Stimmrecht für die Frau einführen. Drei Gründe standen im Vordergrund:
35 Jahre später war ich eine direkte Profiteurin Eures Engagements: Mit dem Wahlslogan «Barbara is Bundeshus», wurde ich am 21. Oktober 2007 überraschend in den Nationalrat gewählt. Überraschend, denn niemand hatte erwartet, dass die CVP Zürich einen Sitz dazu gewinnen würde und somit hatte auch niemand erwartet, dass eine «neue» CVP-Frau gewählt werden würde. Heute weiss ich, dass Ihr CVP-Frauen mir den Weg zu dieser Wahl geebnet habt; Ihr, d.h. Rosmarie Zapfl, Rosmarie Dormann, Josi Meier, Lucrezia Meier-Schatz, Chiara Simoneschi, Thérèse Meyer und viele weitere unerschrockene CVP-Frauen, die sich von Rückschlägen und Angriffen nicht von ihrem Weg abbringen liessen. Was ist aus den Argumenten der damaligen GegnerInnen geworden?
Du, Judith, bist bestimmt, so wie ich später auch, von namentlich bürgerlichen Männern als «Linke» gemassregelt worden, obwohl wir beide klassische Mittepolitikerinnen sind. Ich finde: Bürgerliche Politiker, welche Angst davor haben, als «Linke» bezeichnet zu werden, und nur deshalb eine Meinung vertreten, die sie de facto gar nicht so hegen, gibt es leider nach wie vor. Durch diese Angst verhindern sie eine ehrliche, authentische Politik. Ich habe nie verstanden, warum diese Angst bis heute derart stark unser Politwesen prägt. Wie dem auch sei, es waren insbesondere Frauen wie Du, die sich innerhalb des bürgerlichen Lagers durchsetzen konnten und die somit den entscheidenden Schritt der Frau in die Politik ermöglicht haben. Du, Judith, hast mich auch in den all den Jahren als Nationalrätin betreut und beraten. Du bist auch heute noch ein fester Orientierungspunkt für Frauen, die sich engagieren und vernetzen möchten. Dein Rat ist auch heute für viele Frauen gefragt und wichtig. Mit strahlendem Lachen hast du mir bei meiner eigenen Wahl den Spruch von Josi Meier zugerufen: «D’Frau ghört ist Hus, is Bundeshus.» Seit nun mehr fast einem Jahr dominiert die Corona-Pandemie den Alltag der Menschen in der Schweiz. Wir haben gelernt, Distanz zu wahren, Hygieneregeln einzuhalten, zu verzichten.Man könnte meinen, wir sässen alle im gleichen Boot. Doch dem ist nicht so. Die Pandemie trifft diejenigen Menschen in unserem Land, welche schon vor Ausbruch der Pandemie in prekären Verhältnissen gelebt haben, ungleich härter. So auch die Venezolanerin Camelia* und ihre beiden schulpflichtigen Kinder.
Die Flucht Drohungen waren Alltag für Camelia. Die heute 40-jährige venezolanische Unternehmerin erlebte während Jahren, wie ihre Familie politisch verfolgt wurde, da ihr Vater Mitglied einer oppositionellen politischen Partei war. Die Familie hoffte, dass sich die Lage eines Tages beruhigen würde. Doch dann wurden die Drohungen in die Tat umgesetzt. Camelia musste erleben, wie ihr Vater und ihr Bruder auf offener Strasse erschossen wurden. Und dann wurden ihre Onkel exekutiert. Schliesslich richteten sich die Drohungen gegen sie. Camelia tauchte unter und versteckte sich in einem winzigen Raum, den ihr eine Freundin zur Verfügung stellte. Dort blieb sie zwei Jahre lang. Als sich nahe beim Versteck eine Detonation ereignete, beschloss Camelia, zusammen mit ihren Kindern zu fliehen. Unter dramatischen Bedingungen gingen sie zu Fuss oder per Bus über gefährliche Pfade, ständig in Angst, entdeckt und zurückgeführt zu werden. Bis Ende 2020 haben insgesamt 5,4 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner ihr Land verlassen, denn nebst persönlichen Erlebnissen durch Bedrohungen und Ermordungen waren u.a. inzwischen auch das Bildungs- und das Gesundheitssystem zusammengebrochen. Medikamente waren nicht mehr zu bekommen. Die Flüchtlinge halfen sich gegenseitig, und Camelia gelang es schliesslich, via Kolumbien den Weg nach Europa zu finden. Die kleine Familie war insgesamt sieben Jahre lang unterwegs. Die Ankunft in der Schweiz In der Schweiz hat Camelia eine zumindest vorübergehende Bleibe gefunden; hier hat sie ihr Asylgesuch eingereicht. Die Chancen für eine definitive Aufnahme sind intakt. Doch Camelia und ihre Kinder kämpften und kämpfen noch immer mit den Folgen ihrer langen Flucht. Camelia ist aufgrund des langen Untertauchens inzwischen stark traumatisiert und paranoid. Ihre Kinder hatten nie ein anderes Leben gekannt, als versteckt zu sein, sich still verhalten zu müssen und ja nicht aufzufallen. Das isolierte Leben wiederholt sich für die Familie. Zusammen mit ihren schulpflichtigen Kindern lebt Camelia in einer Einzimmerwohnung in Zürich. Sie verlassen die Wohnung nur für das Nötigste. Die Angst vor Verfolgung ging nie ganz weg. Für die Mutter ist es nach wie vor nicht möglich, den Tag ohne Angst und ohne ständige Weinkrämpfe zu verbringen. Die Kinder kennen nur die Kinder ihrer Klasse. Sie verbringen die Freizeit nur zusammen mit der Mutter in dem einen Zimmer mit dem einen Bett. Draussen zu spielen und sich auszutoben, ist den Kindern fremd. Camelia ist trotz allem sehr dankbar für die zumindest vorläufige Aufnahme in unserem Land. Sie erhält Unterstützung von Hilfswerkern, Kirchenvertretern und gemeinnützigen Anwälten. Sie sind hier in Sicherheit, auch wenn sie nicht immer nur mit offenen Armen empfangen wurden. Das Einleben bleibt für sie wie für viele traumatisierte Flüchtlinge schwierig: Es fehlen soziale Kontakte, es fehlt das Wissen über grundlegende Fähigkeiten wie die Benützung des öffentlichen Verkehrs oder das Wissen, wie man sich in der Schweiz um einen Job bemühen muss. Und dann kommt noch Corona dazu Camelia und ihre Kinder waren bereits vor der Pandemie isoliert und hatten Schwierigkeiten, sich in ihrem neuen Leben zurecht zu finden. Mit Corona wird die Lage aber äusserst heikel und delikat. Nach wie vor sprechen die Kinder noch zu wenig gut Deutsch. Dabei lernen Kinder eigentlich schnell. Sie brauchen dafür möglichst viel Kontakt mit Gleichaltrigen, in der Schule, ergänzenden Deutschunterricht mit viel Präsenzzeit, Gruppenanlässe wie Klassenfeste, Schulreisen, Sportanlässe, etc. Dies alles ist aufgrund der Pandemie massiv eingeschränkt. Sollte die Schule wieder auf Fernunterricht wechseln, würde die Situation der Familie prekär. Das Beschaffen von Computern für das Homeschooling ginge nicht ohne fremde Hilfe. Die Einzimmerwohnung versehen mit einem Bett und einem kleinen Tisch bietet zudem keine Möglichkeit, so zu lernen, wie es anderen Schülern in besseren Verhältnissen möglich ist. Die Pandemie öffnet die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter Auch wenn die Pandemie das ganze Land erfasst, so sind die Folgen für Menschen wie Camelia ungleich härter. Die Armen werden noch ärmer und von der Chance abgeschnitten, sich zu integrieren, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Es gibt zahlreiche versteckte Opfer der Corona-Pandemie, die kaum gesehen werden. Camelia ist ein Beispiel unter vielen. Schauen wir hin. Vergessen wir nicht die, welche nun am meisten Unterstützung brauchen. * Die Kolumnistin kennt die Familie persönlich. Dieser Text wurde publiziert am 27. Januar 2021 auf www.journal21.ch Humilitas – Demut und Humor
Von Barbara Schmid-Federer, 08.10.2020 Journal21.ch Markus Arnold (1953–2020) war eine humorvolle Persönlichkeit, ein wegweisender Christdemokrat und ein brillanter Ethiker und Theologe. Das lateinische Wort Humus, der Boden, ist gleichermassen die Wurzel der Humilitas, also der Demut, wie auch des Humors. Demütige haben Bodenhaftung und können über sich selber lachen, weil sie sich selbst nicht so wichtig nehmen. Demütige haben Humor. Die Demut ist die wichtigste Tugend christlicher Politikerinnen und Politiker. Dies schrieb Markus Arnold in «Politik und Ethik in christlicher Verantwortung» im Jahr 2010, einem Werk, welches mir die Grundlage meines politischen Handels zeigte. Das Buch sei allen Politikerinnen und Politikern ans Herz gelegt, die an einer Auseinandersetzung mit politischen Grundhaltungen interessiert sind – unabhängig von ihrer Religions- oder Parteizugehörigkeit. Demut und Humor als Charaktereigenschaften hat vielleicht keiner so gut verinnerlicht wie der Politiker Markus Arnold. Ihm ging es nie um sich selbst, sondern immer um eine auf dem christlichen Menschenbild basierende Politik, um die Förderung des Gemeinwohls, um die Achtung des Menschen, um eine Würde, die allen Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Ethnie, Religion, gesellschaftlichem Status oder Leistungsfähigkeit zusteht. Seine authentische Art des Politisierens war gepaart mit einem standfesten Charakter und – allem voran – seinem brillanten Humor, kombiniert mit seiner hohen Intelligenz. Fundierter Christdemokrat Markus Arnold war eine Persönlichkeit mit fundiertem theologischem und politischem Wissen, fundiertem Glauben, fundierten Freundschaften. Er war ein gradliniger Mensch, der zu seinen Überzeugungen stand, auch wenn er damit manchmal aneckte. Dadurch war er vielen ein Vorbild. Er war keiner von denen, welche ihre Fahne in den Wind hängten, wenn die öffentliche Meinung die Richtung wechselte. Dabei spielten seine Erfahrungen als Züricher Katholik eine entscheidende Rolle: Er kannte ein Zürich der 60er-bis 80er-Jahre, in welchem Katholikinnen und Katholiken in gewissen Kreisen noch immer diskriminiert wurden. Stets suchte er für sie einen Weg der Akzeptanz und der Ökumene. Um der katholischen Minderheit – die Rede war vornehmlich von immigrierten Arbeitnehmenden aus der Inner- und der Ostschweiz – eine Stimme zu geben, spielte die damalige Christlich-soziale Partei (CSP) und spätere CVP eine wichtige Rolle. 2004 wurde Arnold zum Präsidenten der CVP des Kantons Zürich gewählt. Markus Arnold war bereits damals der Meinung, das «C» im Namen der CVP habe immer wieder zu Missverständnissen geführt. Es sei der Partei – gerade im protestantischen Zürich – nie gelungen, die CVP als «überkonfessionelle Wertepartei» zu verankern, weshalb das «C» im Namen zu überdenken sei. Heute, viele Jahre später, scheint diese Einsicht in der Partei angekommen zu sein. Er selber hat schon damals gehandelt, indem er ein pointiert «liberal-soziales» Programm etablierte. Dies nach dem biblischen Vorbild von Freiheit und Nächstenliebe, Verantwortung und sozialem Handeln. Mit diesem Programm ist es ihm 2007 gelungen, den Wähleranteil der CVP im Kanton Zürich um 2,2 auf 7,6 Prozent zu erhöhen und einen Nationalratssitz dazuzugewinnen. Es waren namentlich moderne junge – vielfach reformierte – Familienfrauen, die neu CVP wählten. In der Geschichte der CVP der letzten fünfzig Jahre war dies ein einmaliger Erfolg. Aufgeschlossener Katholizismus Für die Zürcher Katholiken war der brillante Ethiker und Theologe Markus Arnold eine wichtige Stimme. Die grosse Mehrheit von ihnen fühlte und fühlt sich vom Bistum Chur nicht vertreten. Diese Tatsache hat viele von ihnen geprägt und auch zusammengeschweisst. Es gibt so etwas wie ein «Kollektiv» der Zürcher Katholikinnen und Katholiken. Markus Arnold war während langer Zeit die Stimme, die dessen Unmut in der Öffentlichkeit auch tatsächlich äusserte, wofür er naturgemäss auch kritisiert wurde. In diesem Sinne war er ein Vorreiter, denn heute ist dieser Widerstand in der öffentlichen Wahrnehmung breiter abgestützt. Sei es im Zürcher Verfassungsrat, in der Zürcher Politik, in der Zürcher Synode oder an der Universität Luzern, überall hat er Spuren hinterlassen. Die letzten Zeilen seines Buchs «Politik und Ethik» nehmen denn auch vorweg, was Abschied für ihn bedeutete: «Demütige können auch Abschied nehmen. Wenn sie ihren Dienst getan haben, hält es sie nicht mehr in ihrem Amt. (...) Abschied nehmen, auch vom eigenen Ego – für Christinnen und Christen sollte das eigentlich kein Problem sein.» Zusammenfassung von 13 Kurzreferaten – ein Versuch
Im Wonnemonat Mai 2020 schmückte ein fünf Meter hoher Eisenholzbaum – eine Parrotia Persica – den Münsterhof in Zürich, umgeben von historischen Gebäuden wie der Fraumünsterkirche, dem Haus «Marfurt», den Zunfthäusern «Zur Meisen» und «Zur Waage», sowie dem nahe liegenden Zunfthaus «Zum Storchen». Dem Versammlungsverbot geschuldet, wurden Kurzreferate von 13 Persönlichkeiten nicht neben dem Baum, sondern auf den Dächern oder im Inneren dieser Gebäude gesprochen, aufgenommen und per Livestream publiziert. «Wir setzen damit ein Zeichen der Hoffnung und der Zukunft in der Corona-Krise auf dem Münsterhof», erklären die beiden Initianten Lorenz Schmid, Präsident der Vereinigung Kulturplatz Münsterhof, und Niklaus Peter, Pfarrer am Fraumünster, und erinnern damit an Winston Churchill, selber zu Gast auf dem schönen und geschichtsträchtigen Münsterhof. Seinem Ausspruch folgend, «never waste a good crisis», haben namhafte Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft während eines Monats ihre persönlichen Gedanken formuliert zum Thema: «Was will ich nach der Coronakrise für mich persönlich und für unsere Gesellschaft neu denken, verändern und an positiven Akzenten einbringen?» Im Folgenden sei der Versuch gewagt, die Fülle der Reden in einen Gesamttext zu vereinen. Die Ansprachen sind auf www.baumderhoffnung.ch einsehbar. Der rote Faden der Geschichte Drei Elemente ziehen sich wie ein roter Faden durch den Reigen der 13 Ansprachen. Erstens: Pandemien hat es in der Weltgeschichte immer schon gegeben. Und plötzlich stellen wir fest, dass wir mit solchen Realitäten nicht gerechnet haben. Wir realisieren, dass wir uns geirrt haben. Zweitens: Wir sollen, wollen und können nicht weitermachen wie bisher. Fehlentwicklungen müssen neu gedacht werden, alles andere wäre fatal. Drittens: Durch die Pandemie werden wir mit der Endlichkeit konfrontiert. Über die eigene Endlichkeit, über die Endlichkeit der Menschheit nachdenken wird als wichtige Herausforderung definiert. Dazu gehört auch: Denken wir nach über das Gute. Niklaus Peter und Roger de Weck Der Baum Der Baum mit seinen Wurzeln und der Baumkrone wird als Metapher für das Leben per se, bzw. die Vergangenheit und die Zukunft verwendet. Insbesondere die Voten aus dem Bereich «Kirche» weisen auf den Baum hin, der seine Kraft aus den Wurzeln schöpft. Die Wurzeln sind Sinnbild für die Vergangenheit, für unsere Geschichte. Es ist wichtig, dass wir die Wurzeln, die Geschichte kennen. Urban Federer. Auch werden die Wurzelstränge mit vier fundamentalen christlichen Werten verglichen: Demut, Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Bescheidenheit. Mit diesen seinen Wurzeln hält der Baum den Stürmen stand. Franziska Driessen-Reding Zentral ist die Aufforderung, dass wir auf die Baumkrone hin, auf die Zukunft hin schauen. Christliche Werte, zu denen auch die Hoffnung gehört, dürfen nicht auf die Vergangenheit hin verklärt bleiben, sondern müssen in die Zukunft weisen. «Baumkrone» heisst auf Lateinisch «Corona». Nähren wir mit den Wurzeln «die Corona» für unsere Kinder, denn diese haben ein Recht auf Hoffnung und auf Zukunft. Urban Federer Das Leben mit Corona Der bunte Strauss der 13 Referenten erzählt über das Leben mit Corona in all seinen Facetten. Sitzungen verlaufen schneller, kürzer, strukturierter. Grabenkämpfe finden weniger statt, unnötige Reisen werden nicht getätigt. Gleichzeitig sind Familien unterwegs in den Wäldern, sie hören der Stille des Waldes zu und entschleunigen ihr Leben. Felix Gutzwiller Hervorgehoben werden der grossartige Einsatz von medizinischem Personal sowie die Solidarität. Gleichzeitig werden Nöte im Pflegeberuf offengelegt. Der Beruf wird nicht mehr als attraktiv betrachtet, weil die Anreize falsch gesetzt sind. Gleichzeitig ist die Schweiz ausserordentlich solidarisch mit den Seniorinnen und Senioren. Brida von Castelberg Redakteure arbeiten im Homeoffice, während die Zeitungen trotz Krise regelmässig publiziert werden. In der Corona-Krise erleben die Medien einen enormen Publikumszuwachs. «Social Distancing» ist aber der «Feind unseres Berufs». Ohne die Nähe zu anderen Menschen fehlt der erfrischende Ansatz in der Erzählkunst, Gedankensprünge und Assoziationen kommen abhanden. Luzi Bernet Die Behörden haben schnell reagiert auf die Krise, Gewerbetreibenden wird rasch und unbürokratisch geholfen. In der Nationalen Science Task Force, die den Bundesrat berät, arbeiten Personen zusammen, die sich vorher nicht kannten. Insgesamt wird auch in der Schule viel geleistet, wobei Kinder aus weniger privilegierten Geschichten in Zukunft besondere Aufmerksamkeit benötigen werden. Neue Bilder über Lehrerinnen und Lehrer entstehen, insgesamt lernen wir viel Positives. Monika Bütler Die Versammlungsfreiheit wird verboten, Abstimmungen verschoben, das Parlament zieht sich zurück. Einschränkungen der Freiheitsrechte finden statt, weshalb es sinnvoll ist, so rasch wie möglich in die Normalität zurückkehren. Laura Zimmermann Der absolute Stillstand in der Kunst versetzt Betroffene in eine Schockstarre. Alles ist Stillstand. Gleichzeitig brechen neue Formate – beispielsweise Podcasts – in die digitale Welt herein. Dadurch entsteht die Fähigkeit, die Kunst in ein neues Medium zu übertragen. Ilona Schmiel Bedeutung der Freiwilligenarbeit In der Krisenzeit erlebt die Freiwilligenarbeit eine Renaissance, in einer nie da gewesenen Selbstverständlichkeit. Die Bedeutung der Freiwilligenarbeit hat eine neue Dimension erreicht. Schon immer hat das Milizsystem zur DNA der Schweiz gehört, denn sie fördert durch alle Zeiten hindurch den gesellschaftlichen Zusammenhang. Die Freiwilligenarbeit und das Milizsystem haben in den letzten Jahrzehnten stark gelitten, auch in der Politik und in der Zivilgesellschaft, auch bei den Jüngeren. Die Krise zeigt nun: Es braucht wenig, um sich wieder stärker einzubringen. Dazu sollte es keiner Krise bedürfen. Esther Girsberger Hoffnung: Verantwortung übernehmen für eigenes Handeln Die Lockerungen der COVID-Massnahmen stimmen uns zuerst einmal hoffnungsvoll. Hoffnung ist nicht gleichzusetzen mit Optimismus, denn Optimisten sind eigentlich naiv. Sie glauben, es werde ohnehin alles gut. Auch Pessimisten sind naiv in ihrem Fatalismus, denn Optimisten wie Pessimisten zählen nicht auf die Gestaltungsmacht des Menschen. Hoffen hingegen heisst, nicht zu wissen, ob es gut kommt. Wer hofft, wählt die angemessene Haltung. Hoffende anerkennen die Möglichkeit, dass es so oder anders ausgehen kann. Hoffende wissen, dass mit der Hoffnung die Aufgabe einhergeht, unsere Sehnsucht nach dem Besseren zu leben. Hoffnung befreit von Passivität und verpflichtet, den eigenen Handlungsspielraum auszuschöpfen, bzw. Verantwortung zu übernehmen für das eigene Handeln. Der Lauf der Dinge ändert sich nicht automatisch zum Guten. Es bedarf der Hoffnung. Barbara Bleisch Gedanken der Hoffnung und der Zukunft «Prüft alles, das Gute behaltet.» Mit diesem Pauluswort sind wir dazu aufgefordert, zu prüfen, was wir jahrelang «gemacht» haben, was wir behalten wollen, und was wir verwerfen sollen. Wir brauchen die menschliche Nähe, weil wir auf Kontakte angewiesen sind. Wir brauchen ein massvolles Leben. Wir brauchen soziale Netzwerke. Wir brauchen Orte, wo wir hingehen können, weil wir keine digitalen Wesen sind. Die Religion kann helfen, über die eigene Verletzlichkeit, Fehlbarkeit, Endlichkeit nachzudenken. Niklaus Peter Der hektischen Betriebsamkeit entgehen wir durch den Spaziergang, den «promenade», dem Bespiel Aristoteles oder Rimbauds des meditativen Schreitens folgend. Das Spazieren wird so zu einem Protest gegenüber der Beschleunigung und Geschwindigkeit der Zeit. Luzi Bernet Wir brauchen mehr Gemeinschaft, mehr Spiritualität, mehr Rituale. Unnötige Termine sollen wir nicht mehr wahrnehmen, die eigenen Gedanken hingegen zu Papier bringen, zum Beispiel in Form eines Tagebuchs. Esther Girsberger Wir sollen wieder mehr uns selber sein, mit uns selber auskommen. Wir brauchen eine neue Solidarität zwischen Alt und Jung, reich und arm, fröhlich und traurig. Dazu gehört auch ein gesundes Vertrauensverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft. Im Menschen gibt es viel mehr zu bewundern als zu verachten (Camus, La Peste). Felix Gutzwiller Corona ist eine Einladung dazu, weiter zu denken. Beispielweise über die drängende Klimafrage oder über eine gelebte Solidarität über die Krise hinaus. Wir müssen an der Demokratie arbeiten, wie dies nach dem zweiten Weltkrieg geschehen ist: Rücksicht auf die Nachbarn nehmen innerhalb der Europäischen Union, Rücksicht nehmen auf die Schwächeren durch die soziale Marktwirtschaft. Roger de Weck In Zeiten von Corona, in denen wir wissen, dass wir wenig wissen, erhält der «gesunde Menschenverstand» neue Bedeutung. Setzen wir jeder für sich eigene Massstäbe. Gemäss Immanuel Kant bedeutet die Aufklärung: Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Mündigkeit heisst, sich seines Verstandes zu bedienen, ohne Führung eines anderen. Esther Girsberger Die politische Auseinandersetzung soll besser werden. Verzichten wir auf die üblichen Parteischablonen, den rauen Ton in der Debatte oder in Facebook Posts. Wesentlich ist, den Schwächsten in unserer Gesellschaft gegenüber Solidarität zeigen. So steht es bereits in der Bundesverfassung: Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen. Laura Zimmermann Leben wir nach dem Vorbild des Komponisten Beethoven: seine allerbesten Werke entstanden in der Krise seiner Gehörlosigkeit, als er schon nichts mehr hörte. Die Vision: Alle Menschen werden Brüder. Gerade in diesen Pandemiezeiten, den Zeiten der geschlossenen Grenzen, sollen europäische und weltumfassende Perspektiven zurückkommen. Mit einer Ode an die Freude. Ilona Schmiel Hoffnung bedeutet Arbeit. Auf dass Menschen ihre Zukunft selbst und miteinander gestalten. Dem Kranken Nachbarn helfen, solidarisch sein, rücksichtsvoll und achtsam miteinander umgehen. Demokratie ist eine innere Haltung. Den Baum muss man pflegen. Hoffnung, die uns eine Krise gibt, dürfen wir nicht verschwenden. Hoffnung ist systemrelevant. Ohne Hoffnung hat das Leben keinen Sinn. Moritz Leuenberger Die Hoffnung wächst nicht am Baum. Der Baum wächst auf der Hoffnung. Monika Bütler Herzlichen Dank an Monika Bütler, Volkswirtin, Roger de Weck, Publizist, Ilona Schmiel, Intendantin Tonhalle Zürich, Urban Federer, Abt des Klosters Einsiedeln, Niklaus Peter, Pfarrer am Fraumünster, Mitinitiant, Brida von Castelberg, Ärztin, Felix Gutzwiller, Präventivmediziner und ehemaliger Ständerat, Franziska Driessen-Reding, Präsidentin Synodalrat, Laura Zimmermann, Co-Präsidentin Operation Libero, Esther Girsberger, Unternehmerin und Co-Ombudsfrau SRG, Moritz Leuenberger, Barbara Bleisch, Philosophin, Luzi Bernet, Chefredaktor der NZZ am Sonntag, Enzo Enea, Landschaftsgärtner, Lorenz Schmid, Initiant Projekt Baum der Hoffnung. Das so genannte «Lockdown» aus Anlass der Corona-Krise könnte für viele von uns eine einmalige Chance bedeuten, innerlich zur Ruhe zu kommen. Denn gerade dann, wenn eine Pandemie uns medizinisch, sozial und wirtschaftlich bedroht, bedarf es einer inneren Gelassenheit, einer inneren Stille, einer inneren Besonnenheit, welche dann gefunden wird, wenn äussere Ablenkungen uns nicht mehr daran hindern. Der uns aufgezwungene «Lockdown» gibt uns die Chance, einzukehren.
Ich bin wahrscheinlich nicht die einzige, die diese Chance zur Einkehr zu wenig genutzt hat. Tagelange Online-Sitzungen, ständiges Kochen und Waschen oder ein steigender Bildschirmkonsum haben eher zu erhöhter Anspannung als zur inneren Ruhe geführt. Wer nach einer Möglichkeit sucht, sich auf den Weg der Ruhe zu machen, der oder dem empfehle ich die Lektüre von «Die Glocken von San Pantalon», ein venezianisches Tagebuch, das neuste Werk von Klara Obermüller [1]. Das Tagebuch der Journalistin und Buchautorin hält uns einen Spiegel vor und nimmt uns mit auf ihren eigenen inneren Weg, einen Weg, den ich aktuell glaubte, verloren zu haben. La mise en abyme Wissen Sie, was eine «Mise abyme» ist? Der französische Begriff «Abyme» bedeutet «unendliche Tiefe» oder «Abgrund». Die «Mise en abyme» wird in verschiedenen Kunstgattungen als Stilmittel, als Erzählinstrument verwendet. Auf Englisch existiert der Begriff «mirror text», im Deutschen kennen wir den Ausdruck nicht. Die Rede ist von einem Bild im Bild, von einer Geschichte in der Geschichte von einer mehrfachen Reflektion im Spiegel oder anders gesagt: Ein Text ist gleichzeitig sein eigener Spiegel. Der «Abgrund» steht auch für eine gewisse Tiefe im Menschen, die jene Dinge zum Vorschein bringt, die der Mensch gerne vergessen will, also Dinge, denen er sich nicht stellen will. In der Mise en abyme wird die Leserin, wird der Leser Teil der Geschichte. Der Weg nach innen Fast unheimlich anmutend, erlebte ich bei der Lektüre des Tagebuchs den Weg in die Einkehr, als ob mir jemand sagen würde: «Schau, so kannst du die innere Ruhe während der Pandemie finden». In «Die Glocken von San Panatalon» verbringt die Protagonistin auf Einladung einer Förderstiftung zusammen mit ihrem Mann vier Monate in einem venezianischen Palazzo. Ein Zuhause auf Zeit. Sie nimmt sich fest vor, «nur zu leben», «sich nichts vorzunehmen», weg zu sein vom dauernden «etwas Leisten» und vom «Gefragt sein», sie denkt über das Älterwerden nach, entschleunigt und sucht den Weg nach innen. Geschickt verwebt sie das äussere Zurückziehen mit der Fortsetzung ihres Buches «Spurensuche», in welchem sie ihre biologischen Eltern sucht, welche sie selbst nie gekannt hat. Eine innere Spurensuche geht weiter. In der Gallerie dell’Accademia in Venedig erfährt sie eine Schule des Sehens, einen Ort der Besinnung. Das Betrachten der Gemälde ruft in ihr unerfüllte Sehnsüchte hervor, die in ihrem Leben immer wieder präsent waren. Der Besuch von Kirchen weckt in ihr verdrängte Fragen nach religiösem Empfinden. Dabei taucht sie immer wieder in die Vergangenheit ein und beschreibt den bisherigen Weg zu sich selbst. Ein verborgenes Fresko löst in ihr eine Debatte über Suchen und Finden aus: Das zu finden, was man nicht suchte. Venedig selbst weckt in ihr das Bewusstsein, dass alles flüchtig und ohne Bestand ist, denn Venedig senkt sich, Venedig wird instabil, Venedig fault. Schliesslich stärkt Venedig in ihr die Erkenntnis, dass wir nur Gast auf Erden sind, dass wir Abschied nehmen müssen. Auf dem Torcello kommt die Protagonistin innerlich zur Ruhe, sie ist bei sich selbst angekommen, bei sich zuhause. Beim Abschied von Venedig wird ihr einmal mehr bewusst, dass das Leben ein Abschied nehmen ist, ein Leben, welches wir dann gut leben, wenn wir nicht der Vergangenheit nachtrauern sondern uns auf die Gegenwart besinnen – wenn wir frei sind für den nächsten oder für den letzten Abschnitt unseres Lebens. Eine Vorwegnahme der Einkehr, zu der uns das Virus derzeit zwingt Klara Obermüller hat ihr Tagebuch vor dem Ausbruch der Pandemie geschrieben. Sie konnte damals nicht wissen, dass im Frühling 2020 ein neuartiges Virus ausbrechen würde. Fast unheimlich empfand ich bei der Lektüre aber genau das: die Protagonistin nahm mich an der Hand und zeigte mir, wie man solche Situationen meistert. Als ob sie gewusst hätte, dass sie uns auf etwas vorbereiten soll. Alles, was ich in den vergangenen Wochen unterlassen habe, wurde vor meinen Augen vorgezeigt. Als schaute ich in einen Spiegel. Inzwischen übertrage ich die Erkenntnisse aus diesem Werk auf mein eigenes Leben. Äussere Ablenkungen minimieren, den Fernseher ausschalten, Bücher lesen, Kerzen anzünden, Pausen einlegen, in der Stille die Natur betrachten, Lieblingsorte aufsuchen, den Vogelstimmen lauschen, das Alleinsein, den Müssiggang, schlussendlich mich selber aushalten. «Innere Ruhe» stellt sich nicht von alleine ein. Es ist ein Akt des Suchens und des Findens. Durch das Lesen des Tagebuchts wurde ich Teil der Geschichte und als ich die letzte Seite gelesen hatte, fühlte ich mich ruhig, besonnen und gelassen. Eine gelebte «mise en abyme». Das empfehlenswerte Werk ist eine Vorwegnahme der Einkehr, zu der uns das Virus derzeit zwingt. Aber lesen sie es selbst. [1] Klara Obermüller, «Die Glocken von San Pantalon. Ein venezianisches Tagebuch, Xanthippe 2020 Dieser Artikel wurde am 5. Mai 2020 auf www.journal21.ch publiziert Unser Leben, unser Verhalten während der Corona-Krise wird aktuell per Notrecht durch den Bundesrat bestimmt. Das Notrecht gibt dem Exekutivorgan das Instrument, in Ausnahmesituationen ungewöhnliche, oftmals einschneidende und harte Regeln bestimmen zu können. Die indirekten Folgeschäden, welche solche Regeln in der Gesellschaft gezwungenermassen hinterlassen, kann weder der Bundesrat noch die Politik der drei Gewalten – Legislative, Exekutive, Judikative – alleine auffangen. Dazu ist er jetzt auf die Zivilgesellschaft angewiesen, allen voran auf Non Profit Organisationen (NPO’s) wie das Schweizerische Rote Kreuz oder Pro Juventute. Gerechtigkeit versus Solidarität In der Politik im engeren Sinne geht es nicht um Solidarität. Es geht um Gerechtigkeit. So ist z.B. die AHV oder der Umwandlungssatz der Pensionskassen eine Frage der Generationengerechtigkeit und nicht der Generationensolidarität. Generationensolidarität finden wir z.B. im Engagement der Grosseltern für ihre Enkel, resp. im Engagement der Kinder für ihre betagten Eltern. Solidarisches Handeln erkennen wir auch in der engagierten Menge an Freiwilligen, welche Tag für Tag in Vereinen oder NPO’s engagiert sind. Zum Wohle der Verletzlichsten. Beim gerechten Handeln in der Corona-Zeit geht es um das Eindämmen des Virus, damit in erster Linie Risikogruppen möglichst wenig damit in Verbindung geraten, und damit die Gesamtbevölkerung möglichst wenig Schaden nimmt. In den Aktionen der Zivilgesellschaft hingegen, steht die Solidarität im Vordergrund. Solidarisch sein mit den Benachteiligten, den Armen, den Verletzlichsten. Die Zivilgesellschaft ist das eigentliche soziale Netz in unserem Land. Hier findet Integration statt, hier werden Sinn und Werte erfahren, hier bilden sich persönliche Beziehungsnetze, die auch im Krisenfall zum Tragen kommen. Die Zivilgesellschaft – also auch die NPO’s – kümmert sich aktuell vorbildlich um die Benachteiligten. So zum Beispiel um die 80-jährige Frau, welche das Haus nicht mehr verlassen darf. Ihr werden täglich Nahrungsmittel vor die Tür gestellt. Rolle der NPO’s in der Corona-Zeit Die derzeitigen Entscheide des Bundesrats werden vom Grossteil der Bevölkerung mitgetragen und akzeptiert. Risikogruppen werden gebeten, zuhause zu bleiben, Versammlungen sind verboten und die Schulen bleiben geschlossen. Doch jede einzelne dieser Massnahmen provoziert Krisensituationen im Einzelnen. Alte Menschen können nicht mehr einkaufen gehen, sie vereinsamen, viele Berufstätige bangen aktuell um ihre Existenz, krisengeschüttelte Familien, bzw. belastete Kinder und Jugendliche können nicht mehr aufgefangen werden. Im Grundsatz muss die Politik das Gemeinwohl daran messen, wie es den Ärmsten und Marginalisierten geht. Im Fall der Corona-Krise muss der Bundesrat allerdings der Gesundheit den Vorrang geben. Er muss eine Güterabwägung machen und Entscheide treffen, die für einzelne Betroffene bedrohlich sind. Deshalb liegt es nun an der Zivilgesellschaft, an den Kirchen und den NPO’s, die Stimme für diejenigen zu erheben, die nun auf solidarische Hilfe angewiesen sind. Es liegt an uns, für die betroffenen Menschen da zu sein. Solidarität in der Corona-Krise NPO’s wie Pro Juventute und das Schweizerische Rote Kreuz haben in kürzester Zeit ihre Angebote an die Krise angepasst. Der Grossteil der Kinder und Jugendlichen kommt sehr gut oder ordentlich mit der Situation zurecht. Was aber in der Corona-Zeit vollkommen ausgeblendet wird, ist das Bewusstsein, dass gefährdete Kinder und belastete Jugendliche jetzt erst recht isoliert und im Stich gelassen sind. Wenn wir sie nicht gezielt schützen, werden nicht nur die Betroffenen, sondern die gesamte Gesellschaft nachhaltigen Schaden nehmen. Ein Volk misst sich bekanntlich immer an den Schwächsten. Pro Juventute hat deshalb die Beratungsstelle «147» massiv ausgebaut und digitalisiert, damit jedes Kind, jeder Jugendliche, der jetzt auf sich alleine gestellt ist, rund um die Uhr Beratung und Hilfe erfährt – und zwar auf allen Kanälen. Ebenfalls massiv ausgebaut wurde die Elternberatung von Pro Juventute. Auch hier können sich besorgte oder überforderte Eltern rund um die Uhr an Fachpersonen wenden oder vom umfangreichen Informationsmaterial auf der Homepage profitieren. Das Rote Kreuz hingegen hat in Zusammenarbeit mit Coop einen Heimlieferservice installiert, damit Menschen über 65 das Haus nicht mehr für den Einkauf verlassen müssen. Gleichzeitig wurde im Kanton Zürich das Projekt «Grüezi» aufgezogen. Die vom SRK angerufenen Kundinnen und Kunden freuen sich mehrheitlich über eine telefonische Kontaktaufnahme. Eine erste Einschätzung zeigt, dass Menschen aus dem Alterssegment der Dienstleistung Notruf sich in der aktuellen Situation einsam fühlen. Die SRK – Samariterinnen und Samariter sind aktuell als Freiwillige im Grosseinsatz und unterstützen das medizinische Personal in den Spitälern. In der Krisenzeit entstanden Pro Juventute ist entstanden, als in der Schweiz eine Lungenkrankheit, die Tuberkulose, grassierte. Pro Juventute gründete eine Kinderklinik und betreute die kranken Kinder. Das Rote Kreuz ist bei der Schlacht von Solferino entstanden. Henry Dunant war betroffen von den vielen Verwundeten auf dem Schlachtfeld, er suchte ein Team von Freiwilligen, pflegte und heilte. Diese simple Tat bedeutete der Anfang der Pflege, wie wir sie heute kennen. Beide NGO’s sind in der Krisenzeit entstanden und beide erfüllen in Krisenzeiten ihre wichtigsten Aufgaben. Ich werde immer wieder gefragt, warum es in der reichen Schweiz eine Pro Juventute oder ein Rotes Kreuz brauche. Nun: Es ist auch in der modernen Schweiz so, dass der Staat, die Politik alleine, nicht mit allen Menschen solidarisch sein kann. Es gibt in unserem Land eine versteckte Armut, eine versteckte Gewalt, eine versteckte Hoffnungslosigkeit und ein verstecktes Leiden. Es gibt in unserem Land Menschen, die durch die Maschen des sozialen Netzwerks fallen. Unter dem Netzwerk ist ein zweites Netzwerk aufgespannt. Das Netzwerk der Zivilgesellschaft. Dieses Netzwerk ist jetzt in der Corona-Krise neben anderen zu einem der wichtigen solidarischen Pfeiler der krisengeschüttelten Schweiz geworden. Wir bleiben dran. Publiziert auf www.seniorweb.ch Barbara Schmid-Federer ist Präsidentin Pro Juventute, Präsidentin Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Zürich, Vizepräsidentin Schweizerisches Rotes Kreuz Anne-Antoinette (1800- 1868)
In den meisten Geschichtsbüchern und im Internet wird sie nicht erwähnt.Bei der Vorbereitung zur Mitgliederversammlung des Schweizerischen Roten Kreuzes des Kantons Zürich wollte ich – wie ich das jeder Jahre tue – eine emotionale «Präsidialadresse» schreiben, welche das Wirken von Rotkreuz-Gründer Henry Dunant beschreiben sollte, um an die Umständen zu erinnern, unter welchen die Rotkreuzbewegung entstanden ist. Doch es kam anders: bei der Recherche nach interessanten Fakten über Henry Dunant stiess ich auf überraschende Informationen über eine Frau aus dem 19. Jahrhundert, eine Frau, welche weitgehend unbekannt geblieben ist, obwohl das Rote Kreuz ohne sie vielleicht gar nie entstanden wäre. Die Rede ist von Anne-Antoinette. Anne-Antoinette bleibt in den gängigen Geschichtsbüchern unerwähnt und wer das Internet nach Informationen über die aussergewöhnliche Frau durchforscht, sucht meist vergebens. Das Bild, welches in wenigen Dokumenten von Anne-Antoinette gezeichnet wird, spricht von einer kleinen, graziösen Frau mit schwarzen Augen, oftmals einsam, kränklich und von nervlichen Störungen geplagt. Und was natürlich nicht unerwähnt bleibt: Sie war Mutter von fünf Kindern. Anne-Antoinette war eine Frau aristokratischen Standes, die dennoch bescheiden blieb. Mehr noch: Die ausserordentlich faszinierende Person wurde in ihrem Umfeld rasch wahrgenommen als eine Frau einer mildtätigen Gesinnung und mit einer ausserordentlichen Liebe und Sorge zu Menschen in Not. Obwohl dies damals unüblich war, gestattete Anne-Antoinette den Kindern des benachbarten Waisenhauses, ihren Garten zu benutzen, um sich dort unter den Büschen zu erholen. Waisenkinder mussten zu jener Zeit lieblos und mit mangelnder Ernährung durchs Leben gehen, nicht so aber die Waisenkinder in der Nachbarschaft von Anne-Antoinette. Doch dabei blieb es mit dem Engagement von Anne-Antoinette keineswegs: Absolut ungewohnt für jene Zeit, ging die sie mit ihren Kindern zu Besuchen in Armenvierteln, wo sie Kranke aufsuchte und Arme unterstützte. Sie besuchte Menschen in Wohnungen, die eher Ställen als Wohnungen glichen, sie ging zu Menschen, die nichts ihr Eigen nannten und sie besuchte – zusammen mit ihren eigenen Kindern – Menschen, die am Rande der Gesellschaft vereinsamt und unglücklich waren. Aber auch dabei blieb es nicht: Im Jahr 1836 absolvierte Anne-Antoinette mit ihrer Familie eine Frankreichreise, wo sie unter anderem ein Gefängnis besuchte. Wer sich darunter ein heutiges Schweizer Gefängnis mit Zellen und genügend Essen vorstellt, liegt falsch: Das Gefängnis war ein Ort, an welchem Sträflinge in Ketten gelegt brutal misshandelt wurden. Es war ein aus heutiger Sicht empörender Umgang, den man damals mit den Häftlingen pflegte. Obwohl Anne-Antoinette eine körperlich zerbrechliche Frau war – sie war oftmals bettlägerig – hatte Anne einen starken Charakter. Und dieser Charakter, die Stärke dieser Frau, die Menschlichkeit, das Mitgefühl, ihr Vorbildcharakter und ihre Standhaftigkeit bildeten einen Grundstein, einen Eckstein, in der Geschichte der humanitären Bewegung weltweit, denn Anne-Antoinette hiess mit vollem Namen Anne-Antoinette Dunant, geborene Colladon, und sie war die Mutter von Henry Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes. Die Geschichte der Menschlichkeit, die Henry Dunant mit dem Roten Kreuz schrieb, basiert auf dem Eckstein seiner Mutter: Seine Mutter war es, die Henry Blick schulte gegenüber Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit. Seine Mutter war es, die Henrys Empörung gegenüber Unmenschlichkeit schürte. Seine Mutter war es, die in Henry den lebenslangen Wunsch weckte, leidenden Mitmenschen beizustehen. Es war Anne-Antoinette Dunant, die den Grundstein legte für die grösste Freiwilligenorganisation Welt weit, alleine in der Schweiz sind es 53'000 Freiwillige, die unter der Flagge des Roten Kreuzes tätig sind. Anne-Antoinette Dunant legte den Grundstein zu einer nachhaltigen, weltumfassenden humanitären Organisation und gehört somit zu den Heldinnen in der Geschichte des Roten Kreuzes - dem Zeitgeist entsprechend unbekannt und ungewürdigt. Und es ist eine bittere Episode der Geschichte – oder Ironie des Schicksals- , dass sich Henry Dunant - aus Furcht vor Strafverfolgung wegen «betrügerischem Konkurses» - nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter in seine Heimatstadt Genf zurück traute. Quelle: Frauengestalten um Henry Dunant, Hans Ammann, Henry-Dunant-Museum Heiden, 2000 Zurück zur Startseite In Politik und Medien wird sehr viel und sehr widersprüchlich über Flüchtlinge geschrieben und gesprochen. Erst recht an Weihnachten.Was es für Geflüchtete heisst, hier in der Fremde eine Arbeit, einen Ausbildungsplatz oder eine Wohnung zu finden, darüber wissen wir wenig. Denn nur selten kommen Flüchtlinge selbst zu Wort. Deshalb gebe ich hier die Geschichte von Kidane (*) weiter, einem jungen Mann aus Eriträa.
«Ich heisse Kidane, habe jetzt zwei Töchter – eine hier und eine in Eriträa. Ich bin im Jahr 2015 wegen der Diktatur in die Schweiz geflüchtet. Die Polizei hat meine Mutter mehrmals ins Gefängnis gesteckt und sie ermutigte mich, zu fliehen. Dabei hatte ich in der Schweiz viel Glück, denn ich habe zwei freiwillige Betreuerinnen erhalten, die mich in allem unterstützten, so auch beim Deutschunterricht. Die freiwilligen Frauen sind mir in allen Lebensschwierigkeiten beigestanden. Ich bin sehr dankbar, dass es solche Menschen in der Schweiz gibt. Ohne sie wäre mein Leben schwieriger. Ich konnte damals nur mit Medikamenten schlafen. Durch die Freiwilligen habe ich 2017 einen Bauern kennengelernt, bei dem ich zwei- bis dreimal in der Woche freiwillig arbeiten konnte. Nach drei Jahren erhielt ich 2018 meine Aufenthaltsbewilligung F und meine Frau ist dann selber in die Schweiz geflüchtet. Nach meinem Asylentscheid hat mir der Sozialarbeiter den Deutschkurs gestrichen und mich in ein Beschäftigungsprogramm geschickt. Dort war ich überfordert, weil ich noch nicht genügend Deutsch konnte und während 6 Tagen pro Woche arbeiten musste. Dies würde eigentlich dem Arbeitsgesetz widersprechen, aber niemand setzte sich für mich ein. Pro Monat habe ich dafür 50 Franken verdient. Am Ende habe ich ein Zeugnis erhalten, das mir später geholfen hat. Ich habe dem Sozialamt gesagt, dass ich arbeiten möchte. Das Sozialamt hat mich zum RAV geschickt. Nur dank meiner Betreuerinnen schaffte ich es, pro Monat 13 Bewerbungen zu verschicken. Alleine wäre dies nicht möglich gewesen. 2019 kam meine zweite Tochter auf die Welt und dann wurde ich bei einem Gärtner angestellt. Nach ein paar Monaten hat mir mein Arbeitgeber vorgeschlagen, bei ihm eine Lehre zu machen. Eigentlich hätte ich das gern getan, aber ich vermisse meine sechsjährige Tochter in Eriträa und möchte sie gerne zu uns in die Schweiz holen. Wenn ich aber eine Ausbildung mache und deswegen noch Sozialhilfe bekomme, darf ich meine Tochter nicht hierherbringen. Mein Plan war es, später eine Ausbildung zu machen. Schliesslich hat mir meine Sozialarbeiterin – die ich heute als sehr hilfreich erlebe, was aber nicht immer der Fall war – erklärt, dass ich meine Tochter sowieso nicht in die Schweiz bringen kann, da ich nach der Bewilligung zuerst drei Jahre warten muss. Also haben wir uns dazu entschieden, dass ich eine Ausbildung als Verkäufer bei der Gärtnerei anfange. Das ist gut für meine Zukunft, aber es verzögert den Moment, meine ältere Tochter bei uns zu haben. Meine Erfahrungen der letzten Jahre sind vielseitig. Viel Dankbarkeit, aber auch viele Schwierigkeiten. Die Schweizer wissen nicht, wie es ist, drei Jahre in einem Asylheim zu leben, als Flüchtling eine Wohnung zu suchen, die Familie und die Kinder in einem anderen Land zu haben und jahrelang auf einen Entscheid zu warten. Die Gesetze werden immer wieder verschärft. Ich arbeite hart und mache eine Ausbildung und gebe mein Bestes, um mich zu integrieren, aber mein Herz und meine Gedanken sind bei unserer älteren Tochter. Wann wird sie bei uns sein?» Die Weihnachtsgeschichte beginnt mit der Geburt eines Kindes, fernab der Heimat, unter prekären Verhältnissen. Nach der Geburt flieht die Familie nach Ägypten, da sie politisch verfolgt wird. Die Weihnachtsgeschichte ist auch eine Fluchtgeschichte. Kidane hat seine Geschichte an einer Veranstaltung zur Arbeitsintegration von «unsere Stimmen – NCBI Schweiz» erzählt. Es wurde die Frage gestellt, warum Flüchtlinge uns Angst machen, ob wir nicht anders über Flüchtlinge sprechen würden, wenn wir anerkennen würden, dass ein Mensch ein Mensch bleibt, egal wo er sich unter welchen Umständen befindet. Menschen haben das Recht, als Mensch behandelt zu werden. Dazu gehört auch das Recht, aus einer Situation zu fliehen, die für einem selber und seine Familie gefährlich werden kann. Wir alle würden so handeln, wen wir uns in prekären Situationen befinden würden. Weihnachten ist nicht nur eine Fluchtgeschichte, Weihnachten ist das Fest der Nächstenliebe. Die Geschichte von Kidane gehört dazu. (*) Name geändert Die SOS-Beratung des Schweizerischen Roten Kreuzes Kanton Zürich platzt aus allen Nähten. Ein Grund dafür ist der Entscheid der Zürcher Stimmbevölkerung, vorläufig aufgenommenen Personen im Kanton Zürich nicht mehr durch Sozialhilfe sondern nur noch durch Asylfürsorge zu unterstützen. Dies bedeutet eine Kürzung von 30% und mehr und stellt die Betroffenen vor Probleme. Sie haben Mühe, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Unvorhergesehene Ausgaben haben keinen Platz im äusserst knappen Budget. Das Hilfswerk appelliert an die Behörden, die Missstände anzuschauen und das neue Gesetz menschenwürdig umzusetzen.
SOS-Beratung platzt aus allen Nähten Die SOS-Beratung des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) ist eine niederschwellige Anlauf- und Triagestelle, welche vernetzt mit anderen spezialisierten Beratungsstellen zusammenarbeitet. Ihre Aufgabe besteht in der Beratung und Unterstützung von Menschen in Not. Ein beachtlicher Teil der Klientinnen und Klienten der SOS-Beratungsstelle sind Personen mit einer F-Bewilligung, also Menschen, die meist Opfer von kriegerischen Auseinandersetzungen, Gewalt und Verfolgung sind, die nicht in ihr Heimatland zurückgeschickt werden können, die aber nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Diese Personen werden in der Schweiz bleiben, gleichzeitig wird ihnen durch das neue Gesetz die Integration erschwert. Dies widerspricht diametral der Integrationsagenda des Bundes. Der Willkür der Behörden ausgeliefert Gemäss neuem Gesetz werden vorläufig aufgenommene Personen von der ordentlichen Sozialhilfe ausgeschlossen. Was einfach klingt, wirkt sich in der Praxis wie ein Glücksspiel aus. Aufgrund fehlender Mindeststandards können die Gemeinden das neue Gesetz willkürlich anwenden: möglichst human und auf die Integration konzentriert oder möglichst hart, um zu sparen. In der Praxis sind es aber schlicht und einfach Menschen, die ihre Grundbedürfnisse nicht mehr abdecken können. Das Beispiel einer Familie: Familie Awad (Name geändert) lebt seit 2014 in der Schweiz. Awads haben drei Kinder im Alter von 1 – 4 Jahren. Die Familie hat seit 2017 eine F-Bewilligung und lebt in einer Gemeinde, welche die Asylfürsorge besonders restriktiv anwendet. Gemäss SKOS-Richtlinien würde der Grundbedarf der Familie 2'386 Franken betragen. Die Familie erhält aber lediglich 1’645 Franken. Da die drei Kinder vom Alter her nahe beieinander sind, sind die Ausgaben für Windeln und Milchpulver besonders hoch. Die prekäre finanzielle Situation und die sehr angespannten Wohnverhältnisse in einer Kollektivunterkunft bringen für Eltern und Kinder Stress mit sich, was sich auch auf das Trockenwerden der Kinder, die Stillmöglichkeiten der Mutter und die Ernährung der Kinder - Verweigerung fester Nahrung - niederschlägt und die Ausgaben für Windeln und Milchpulver wiederum ansteigen lässt. Durch den ungenügenden Grundbetrag der Asylfürsorge gerät die Familie in einen Teufelskreis, der es ihr erschwert, sich zu integrieren und ihr Leben selbständig in die Hand zu nehmen. Zusätzliche Schikanen belasten sie. Die Eltern besuchen einen Deutschkurs, gleichzeitig werden ihnen die dazu benötigten Fahrkosten berechnet, Fahrkosten, die sie sich nicht leisten können. Teufelskreis auch deshalb, weil ihnen nach neuem Gesetz nur noch eine Kollektivunterkunft zur Verfügung gestellt werden muss. Ein normales Familienleben und die Möglichkeit, in den Arbeits- und Wohnungsmarkt einzudringen wird durch die Folgen der Budgetkürzung erschwert. Integrationsagenda des Bundes wird unterlaufen Es ist nicht die Aufgabe des Schweizerischen Roten Kreuzes, Politik zu betreiben. Den gefällten Volksentscheid stellen wir nicht in Frage, wir wollen und müssen aber auf Misstände hinweisen. Das SRK ist dem Grundsatz der Menschlichkeit verpflichtet und muss dort anmahnen, wo dieser Grundsatz verletzt wird. Das System der Asylfürsorge war ursprünglich für die Unterstützung von Asylsuchenden für die Dauer ihres Asylprozesses gedacht gewesen, d.h. es war nicht gedacht für Personen, die mehrheitlich in der Schweiz bleiben werden. Das System der Asylfürsorge war nur als Übergangslösung gedacht gewesen. Die Familie Awad wird aber noch länger in diesem System hängen bleiben, ohne Aussicht auf ein eigenständiges, verantwortungsvolles Leben, weil ihre Chancen, auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, sehr gering sind. Die Familie Awad wird vom Schweizerischen Roten Kreuz des Kantons Zürich unterstützt. Gleichzeitig weisen wir darauf hin, dass wir nicht in der Lage sein werden, die steigende Anzahl an Familien in analogen Situationen permanent betreuen zu können. Seit Kurzem wird die von Bund und Kantonen lancierte Integrationsagenda umgesetzt, welche Familien wie die Awads befähigen soll, sich nachhaltig zu integrieren. Viele Gemeinden des Kantons Zürich setzen die Asylfürsorgeansätze aber so tief an, dass die Integration der Betroffenen aktiv behindert wird. Es ist nun an den Behörden, aber auch an der Zivilgesellschaft, den Missstand anzuschauen und die nötigen Massnahmen zu ergreifen. Donald Trump fordert die Todesstrafe.
Mit seiner Forderung in einem emotionalen Moment schlägt der US-Präsident drei Fliegen mit einem Schlag: Erstens spricht er eine rechts-konservative Wählerschicht an, die immer härtere Strafen fordert und die er brauchen wird, wenn er wiedergewählt werden will. Zweitens spielt er mit dieser Aufforderung einer evangelikalen Wählerschaft in die Hände, welche in missionarischem Eifer die Welt vom «Bösen» – Beispiel Homosexuelle – befreien will. Auch die Evangelikalen sind Garant für seine Wiederwahl. Drittens aber – und hier liegt der Kern des Problems – bedient er sich einer einfachen Methode, die sich in Momenten des Schreckens ausnützen lässt: Er weiss, dass Menschen, die von starken Gefühlen wie Trauer, Wut oder Schrecken beherrscht werden, keine vernünftigen juristischen Entscheidungen treffen können. Wer die Wut der Bürgerinnen und Bürger im richtigen Moment packt, macht aus der Menschenmenge einen Mob, eine Gruppe, die hasserfüllt nach Vergeltung schreit. Verschärfung des Strafrechts Donald Trump fordert nicht nur einfach die Todesstrafe. Nein, er wendet sich mit dieser Forderung direkt an die Justiz. Obwohl Forschungsergebnisse klar beweisen, dass harte Strafen wenig bringen, um zukünftige Taten zu verhindern, missbraucht Donald Trump das Strafrecht, um den Mob anzuheizen. Diese Tendenz, das Strafrecht zu verschärfen, kann auch seit Jahren in der Schweiz beobachtet werden. Die Repressionsspirale dreht auch bei uns, obwohl wir um unser Strafrecht weltweit beneidet werden, obwohl unser Strafrecht ein Garant dafür ist, dass in unserem Land sozialer Frieden herrscht. Sühne und Vergebung Das Schweizer Strafrecht ist nach dem Muster von Sühne und Vergebung aufgebaut. Der Täter wird durch die Gesellschaft bestraft, er sühnt seine Tat beispielsweise im Gefängnis. Nach der Sühne ist ihm oder ihr durch die Gesellschaft die Schuld vergeben. Das Gegenteil dieses Prozesses zur Überwindung der Schuld läuft bei der Todesstrafe ab: An die Stelle von Sühne und Vergebung tritt die Rache. In den USA schauen die Angehörigen des Opfers meist bei der Vollstreckung der Strafe zu, weil sie hoffen, dadurch werde das Opfer gerächt. Genugtuung für die Opfer ersetzt Vergebung. Die Schuld wird nicht überwunden, Opfer wie Täter bleiben in ihr gefangen. Die Schweiz bewegt sich schrittweise auf die Todesstrafe zu. Empörte Bürgerinnen und (schein)empörte Politiker fordern Nulltoleranz im Strafrecht: lebenslange Verwahrung, automatische Berufsverbote, unverjährbare Strafen, harte Linie, lebenslange Pranger oder kein Löschen von gesühnten Strafen aus dem Strafregister. Wer in der aktuellen Debatte um das Schweizer Strafrecht von Vergebung und Sühne spricht, wird ausgelacht, als Pädophilenschützer oder eben als Täterschützerin verhöhnt. Vergebung ist eine der wichtigsten christlichen Werte Vergebung ist eine der wichtigsten und zentralsten Botschaften des Christentums. Christen auf der ganzen Welt beten regelmässig das «Vater unser» oder «Unser Vater». Dort wird dann gesagt: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.» Und auf Nachfrage seiner Freundinnen und Freunde, wie oft denn vergeben werden sollte, antwortet Jesus nicht 7 mal, sondern 77 mal. Menschen christlichen Glaubens drängen demnach auf die Sühne der Täterin oder des Täters, ohne zur Rache der Todesstrafe zu greifen. Sie glauben, dass ihnen selber ebenfalls Vergebung zugesprochen wird. Bei seinem eigenen Tod forderte Jesus von seinem Gott, er möge den Tätern vergeben, denn sie wüssten nicht, was sie tun. Auch ein Mörder hat noch ein Recht auf sein Leben Die Menschenwürde – das Recht auf Leben und das Recht nicht gefoltert zu werden – ist der Grund, dass in vielen Ländern die Todesstrafe abgeschafft wurde. Auch ein Mörder hat noch ein Recht auf sein Leben. Oder, wie es der Ethiker Markus Arnold sagt: «Wenn die Menschenrechte kompromisslos die Grundlage aller Gesetze wären, dann wären die Zeiten der Todesstrafen vorbei. Aber die Humanität ist eine dünne Schicht oberhalb der Barbarei: Was in Deutschland während der Nazi-Zeit passiert war, ist eine Warnung an alle. Humanität ist eine Kultur, die geschützt werden muss.» Zum 1. AugustDie guten alten Zeiten Von Barbara Schmid-Federer, 01.08.2019
Es ist nicht einfach Nostalgie, am Nationalfeiertag an Vergangenes zurückzudenken. Manches davon ist es wert, für die Zukunft neu belebt zu werden. Erinnern Sie sich noch an die guten alten Zeiten? Als wir noch herzhaft lachen konnten, wenn Mani Matter ein Zündhölzli anzündete und am Ende ein Weltkrieg daraus entstand? Als die ganze Nation am Samstagabend vor dem Fernseher sass und dem schwankenden Teleboy zuschaute, während die alte Dame vor versteckter Kamera ihr Gipfeli in die Tasse fremder Menschen tunkte? Als wir jeden Mittag nach Hause rannten, um Pirmin Zurbriggens Abfahrten zu bejubeln? Und Sie, heutige Grosseltern, Urgrosseltern, erinnern Sie sich noch an die Zeiten, als Ihre Eltern noch richtig hart arbeiten mussten, während Sie selber stunden- und tagelang draussen spielten? Natürlich unbeaufsichtigt. Und als der Nachbarsbub das Bienenhaus abbrannte, bis es nur noch Rauch und Asche war? Oder als die Buben meterweise Toilettenpapier aus dem fahrenden Zug flattern liessen? Tja, das waren noch schöne Zeiten, die guten alten Zeiten. Die Ansprüche an Eltern sind grösser geworden Neben dem Hof meiner Urgrosseltern gab es eine Böschung, auf welcher die Kinder vom Dorf den ganzen Winter über schlitteln konnten, ohne dass die Erwachsenen Zeit gehabt hätten, daneben zu stehen und ihnen zuzuschauen. Doch dann geschah es: Eines der Kinder fuhr direkt in eine Wand und war auf der Stelle tot. Das ganze Dorf war tief betroffen und alle, wirklich alle, halfen der trauernden Familie beim Verarbeiten des Verlustes. Ein analoges – leider ebenfalls reales – Beispiel heute: Vor ein paar Jahren fuhr ein lustiger Bengel einer Nachbarsgemeinde täglich mit dem Trottinett herum. Doch einmal, da konnte er nicht bremsen. Er raste ungewollt auf die Strasse und auch er war auf der Stelle tot. Hier waren jedoch die Reaktionen der Gemeindemitglieder mehrheitlich negativ. Empört wurde über die Verantwortungslosigkeit der Eltern debattiert, bis hin zu Leserbriefen in der Lokalzeitung. Den Eltern wurde vorgeworfen, sie hätten ihre Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen, das habe man nun davon, wenn es kein Helmobligatorium gebe und wenn die Eltern sich keine Zeit mehr nehmen würden für ihre Kinder. Solche Reaktionen können Eltern stark verunsichern und sind mitverantwortlich dafür, dass immer mehr Kinder die schulfreie Zeit entweder vollkommen alleine in der Familienwohnung verbringen, betreut nur von Kühlschrank und Spielkonsole, oder aber von einem strukturierten Freizeitangebot zum andern chauffiert werden. In beiden Fällen bleibt das freie Spiel, welches für die Entwicklung von eminenter Bedeutung ist, auf der Strecke. Beide Eltern – heute wie damals – hatten Ihre Kinder gern und beide Eltern mussten hart arbeiten, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Beide Verunglückten waren normale Kinder, die geliebt wurden. Bei beiden ist einfach ein schlimmer Unfall passiert. Wenn das gesellschaftliche Urteil über die beiden Unfälle so verschieden ausfällt, dann deshalb, weil unsere Gesellschaft grundsätzlich kinder- und familienfeindlicher geworden ist. Die Ansprüche und Erwartungen, die an Eltern und Kinder gestellt werden, haben zugenommen. Während die Kindheit unserer Urgrosseltern und Grosseltern fast identisch verlief, können sich heute auch sehr junge Eltern manchmal kaum mehr vorstellen, was ihre Kinder tagtäglich erleben. Das kann verwirren und macht es oft schwierig, sich zu orientieren. Familien mit Kindern sind zu einer Gruppe geworden, die ständig kritisiert wird und sich sehr grossen Herausforderungen stellen muss. Denken wir beispielsweise an die massiv höheren Lebenshaltungskosten oder den deutlich gestiegen Wettbewerb um Schulabschlüsse, Arbeits- und Lehrstellen. Der Verkehr hat zugenommen und immer mehr Leute stören sich am Kinderlärm. Es kann nicht oft genug gesagt werden: Heutige Eltern sind nicht schlechter als die Eltern der sogenannt guten alten Zeit, und die heutige Jugend ist mehrheitlich eine sehr gute Jugend. Selbstverständlich sind nicht alle Jugendlichen unproblematisch. Wir kennen die Ausnahmen und wissen auch, dass dort klare Grenzen gesetzt werden müssen. Nüchtern betrachtet sind jugendliche Streiche meist harmloser geworden – selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Die Geschichte mit dem im Wind flatternden Toilettenpapier ist nicht mehr möglich, da die Fenster im Zug sich nicht mehr öffnen lassen. So oder so würden die Eltern angezeigt werden, würden ihre Kinder heute den Streich von damals wiederholen. Erst recht, wenn ein Bienenhaus abgebrannt würde. Was früher zum Bubsein gehörte, liegt heute nicht mehr drin. Die Streiche meines Grossvaters sind heute tabu. Und dass eine Mutter ihre Kinder stundenlang und unbeaufsichtigt draussen spielen lässt, wird von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert, obwohl alle wissen, dass dies für die kindliche Entwicklung zentral ist. Plädoyer für die heutige Jugend Hören wir auf, ständig schlecht über die heutige Jugend zu reden. Im Gegenteil: Mich beeindruckt immer wieder, mit welchem Engagement, Pragmatismus und Selbstbewusstsein die Jugendlichen von heute ihr Leben angehen. Zudem hat beispielsweise die Jugendkriminalität in den letzten Jahren deutlich abgenommen – auch wenn uns oft glauben gemacht wird, sie hätte zugenommen. Viele Jugendliche engagieren sich freiwillig in Freizeitorganisationen wie der Pfadi. Das ist Gold wert und diese Jugendlichen verdienen Lob und Anerkennung. Und Dankbarkeit. Die Zeiten ändern sich und Mani Matter ist vielleicht den heutigen Jugendlichen nicht mehr bekannt. Aber es gibt neue Schweizer Sängerinnen und Sänger, die schon bald zu Legenden werden. Wer kennt nicht Stefanie Heinzmann, Trauffer, Baschi, Steff la Cheffe oder Nemo? Heutige Kinder kennen zwar den Teleboy nicht, aber sie sehen sich Zambo an und freuen sich über die Geschichte des Harry Potter. Von Pirmin Zurbriggen haben sie meist nichts gehört, aber da gibt es ja den Federer. Den Roger. Und der werde nie vergessen werden, sagen sie. Mein Traum für einen bald kommenden Geburtstag der Schweiz: Die Gründung von modernen Familienquartieren ohne Durchgangsverkehr ist erfolgt. Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer begrüsst Kinderlärm ausdrücklich. Die Familienarmut ist gestoppt. Die Kinder sind wieder frei und dürfen sich stundenlang draussen aufhalten. Die Schweizer Jugend wird seit Jahren geliebt und gelobt. Sportverbände, Pfadi, Cevi, Jungwacht und Blauring erleben einen nie dagewesenen Boom. Kinder und Jugendliche sind nichts anderes als der Spiegel unserer Gesellschaft. Und wie der Philosoph Kalil Gibran es ausdrückt: «Du bist der Bogen, von dem deine Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.» Nun wünsche ich Ihnen, uns allen, aber vor allem den Jugendlichen, ein frohes Fest und unserem Land alles Gute zum Geburtstag. Wenn die katholische Kirche jetzt nicht erkennt, dass die Lösung ihrer Krise nur durch die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den Frauen zu finden ist, dann ist ihr nicht mehr zu helfen.Vor ein paar Monaten nahm ich an einem katholischen Gottesdienst in einer erzkonservativen Gemeinde Deutschlands teil. Den zelebrierenden Priester umgab dabei eine dominante, überhebliche Aura, die meinem Verständnis von Priestertum widerspricht. Während der Messe ging eine Frau vor ihm auf die Knie und küsste den Saum seines Rockes. Der Priester war weder erstaunt noch erschrocken. Im Gegenteil, er liess dies mit grosser Selbstverständlichkeit geschehen und zelebrierte seine «göttliche» Macht gegenüber der unterwürfigen Frau. Die Frau war die Dienende, er der Herrscher, der sich in dieser fast anbetenden Szene offensichtlich wohl fühlte.
Eine solche Szene ist weder in Deutschland noch in der Schweiz die Norm. Im Gegenteil: Als Zürcher Katholikin bin ich es gewohnt, dass der Priester auf Augenhöhe mit den Gemeindemitgliedern kommuniziert. Als Zürcher Katholikin erlebe ich den Gottesdienst als gemeinsames Feiern ohne hierarchische Barrieren. Als Zürcher Katholikin bin ich es auch gewohnt, dass Frauen nicht auf die Knie gehen, sondern auf die Kanzel. Jahrhunderte lange Erziehung von Mädchen und jungen Frauen Trotzdem steht diese Szene exemplarisch für offensichtliche Fehlentwicklungen innerhalb der katholischen Kirche, die schonungslos aufgearbeitet werden müssen. Zum Beispiel beim Thema Macht: Die Machtausübung von Männern gegenüber Frauen ist tief verwurzelt in einem Jahrhunderte alten Erziehungsmuster, das auch in der katholischen Kirche zu finden ist: Die Frau wird zur Keuschheit erzogen, während der Mann die sexuelle Welt im Eilzug erobern darf. Die ledige schwangere Frau wurde zur Hexe, der schwängernde Mann zog seines Weges. Wer über Jahrhunderte glauben lässt, dies sei göttlicher Wille und der Mann sei mit göttlicher Macht versehen, glaubt es am Ende selber. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil waren viele Katholikinnen und Katholiken überzeugt, nun stehe eine neue Ära bevor, in die Frauen und Männer gleichberechtigt aufbrechen würden. Inzwischen sind viele von ihnen alt, sind in ihren Hoffnungen enttäuscht und haben ihren Glauben daran verloren. Dabei machen es viele Kirchgemeinden gerade in der Schweiz und in Deutschland vor: Frauen und Männer gestalten gemeinsam die Kirche, nicht nur wenn es um den Blumenschmuck oder die Auswahl der Lieder geht. Doch es braucht mehr, und die Zeit drängt. Hausgemachte Krise Die Kirche steckt heute in einer existentiellen Krise, weil sie schädliche Machtstrukturen nicht behoben hat, und weil dort, wo Schaden angerichtet wurde, wenig Gutmachung geschehen ist. Auch der so genannte «Missbrauchsskandal» erschüttert die Kirche in ihrer Grundexistenz. Viele der aufgeblasenen, sich den Rock küssen lassenden Priester sind inzwischen zu Tätern geworden. Machtbewusste Männer, Priester mit vermeintlich göttlicher Aura, haben sich an Kindern und Jugendlichen vergangen, auch an erwachsenen Frauen und Männern. Körperlich. Seelisch. Vom Küssen des Rocksaums ist es bis zum Küssen des Körpers manchmal kein weiter Weg. Sexueller Missbrauch ist im Kern Machtmissbrauch. Er findet überall statt, in erster Linie in der eigenen Familie. Die Kirche steht hier aber in einer besonderen Verantwortung. Das Einbinden der Frauen in die Führungsverantwortung ist der effektvollste und wirksamste Lösungsansatz, um Machtgefälle im Keim zu ersticken. Frauen müssen die Kirche partnerschaftlich mitgestalten können, sei es in der Seelsorge, sei es beim Predigen, sei es im Spenden von Sakramenten. Die falsche Debatte um den Streik Der katholische Frauenbund hat beschlossen, sich dem Streik vom 14. Juni anzuschliessen. Ob ein Frauenstreik der richtige Weg sei, wird mancherorts gefragt. Dabei wird immer wieder zwischen linken, streikenden und bürgerlichen, nicht streikenden Frauen unterschieden. Mit Verlaub: Wer diese Frage auf einen politischen Flügelstreit reduziert, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Der Mann, auf den sich die Christen berufen, wurde zu Tode gefoltert. Nicht nur, weil er die Machtgefüge der damaligen Priester störte, sondern auch, weil er den Frauen sowie anderen Benachteiligten auf Augenhöhe begegnete. Eine Tatsache, die damals als skandalös empfunden wurde. Maria Magdalena ist das leuchtende Beispiel der Frau, die als Jüngerin Jesu sein Leben und Leiden teilte. Auch dafür wurde er gefoltert. Hätte man damals auf ihn gehört, hätte man den Weg frei gemacht für die vielen Maria Magdalenas, welche zu den treuesten der Jüngerinnen und Jünger Jesu gehörten, dann wäre die katholische Kirche zweitausend Jahre später nicht in ihren Grundfesten erschüttert. Die vermeintlich göttlichen Priester hätten längst vom Sockel heruntersteigen und die Macht paritätisch teilen müssen. Ob katholische Frauen am 14. Juni 2019 streiken oder nicht: Wichtig ist, dass Zeichen gesetzt werden, dass Frauen zu echten Partnerinnen werden – nicht nur in der Krise, sondern bei der zukünftigen Gestaltung der katholischen Kirche. Oder wie es unlängst Priorin Gassmann vom Kloster Fahr sagte: «Die Kirche kann nur gesunden und erstarken, wenn Frauen und Männer gleichberechtigt miteinander in die Zukunft gehen.» Dem ist nichts beizufügen. In der schweizerischen Politik zieht eine kompromisslose Radikalisierung ein. Damit werden tragfähige Lösungen verhindert.
Wenn sich ein politisches Schwergewicht wie CVP-Ständerat Konrad Graber Ende dieses Jahres von der Politbühne verabschiedet, dann geht es um viel mehr als um einen einzelnen Parlamentarier: Mit Graber verabschiedet sich ein grosses Stück Kompromissfähigkeit der Schweizer Politik. Das Wort „Kompromiss“ bedeutet gemäss Duden eine Übereinkunft durch gegenseitige Zugeständnisse. Es wird eine gemeinsame Lösung gesucht, indem beide Seiten etwas geben und beide Seiten etwas erhalten. Das, was ich geben muss, ist mir unter Umständen unangenehm. Als Politikerin schadet es mir vielleicht sogar in der öffentlichen Wahrnehmung. Beim Kompromiss erhalte ich aber auch etwas zurück. Unter dem Strich wird die Lösung im Gesamtinteresse höher gewichtet als das Detail, welches mir zuwider ist. Und wenn der Kompromiss über lange Zeit nicht innerhalb eines Sachthemas gefunden werden kann, so ist es legitim, diesen über zwei Sachthemen hinweg zu suchen. Die Schweiz rühmt sich stets ihrer direkten Demokratie, doch vielen ist gar nicht bewusst, dass es das Erarbeiten von Kompromissen ist, welches unsere Gesellschaft zusammenhält. Kompromisse ermöglichen uns ein stabiles politisches System; politische Kompromisse garantieren uns schlussendlich Wohlstand und sozialen Frieden. Das bedeutendste Beispiel dafür ist die Reform der AHV. Während notwenige Anpassungen der ersten Säule früher in regelmässigen Abständen zustande kamen, ringen wir seit 20 Jahren vergebens um eine tragfähige Lösung. Warum? Auf der einen Seite gibt es eine zunehmende Polarisierung der politischen Parteien: Wer sich rechts oder links „klar“ positionieren will, muss den Klassenkampf gegen den anderen Pol führen, was meist mit einer kompromisslosen Radikalisierung einhergeht. Vorschläge von links werden von den Rechtsbürgerlichen ohne Wenn und Aber in den Boden gestampft. Forderungen von rechts werden von der radikalen Linken verteufelt. Aus Prinzip. Das Prinzip verhindert tragfähige Kompromisse. Ein Politiker, der sich deutlich und lauthals vom anderen Pol abgrenzt, wird gerne mit einem „klaren Profil“ betitelt, von den nahe stehenden Medien gelobt und von der Wählerschaft belohnt. Und hier sind wir beim zweiten Grund für unsere kompromissarme Zeit: Wir erleben eine Zeit der medialen Polarisierung und des radikalen Auftritts von Politikerinnen und Politikern. Beliebt ist, wer möglichst schlagfertig in den Ring der Arena steigt, oftmals auf Kosten einer klugen, kompromiss- und tragfähigen Lösung des Problems. Doch Lösungen werden nicht vor laufender Kamera, sondern im Kommissionszimmer – nicht im Hinterzimmer – gesucht und gefunden. Dies gelingt nur, wenn eine überparteiliche Gruppe gemeinsam an den Details einer Reform feilen kann. Und genau darin besteht der Leistungsausweis von Konrad Graber: Ihm gelingt es seit vielen Jahren immer wieder, Kompromisse zu schmieden und damit unser Land weiter zu bringen. So auch jetzt bei der AHV-Steuervorlage, über die wir am 19. Mai abstimmen. Etliche bisherige Kompromissvorschläge sind gescheitert. Während die Gegner der Vorlage weiter davon träumen, eine reine Unternehmenssteuerreform durchzubringen und dabei gleichzeitig einen AHV-Abbau auf Kosten der Rentnerinnen und Rentner riskieren, unterbreiten uns Bundesrat und Parlament einen klugen Kompromissvorschlag aus der Feder des abtretenden CVP-Ständerats Konrad Graber. Es ist zu hoffen, dass dieser Kompromiss vom Volk gut geheissen wird. Wenn Konrad Graber Ende 2019 die Politbühne verlässt, dann wird es umso wichtiger werden, Politikerinnen und Politiker zu wählen, welche ebenso unaufgeregt und ohne Profilierungssucht auftreten können und an dem arbeiten, worauf wir alle stolz sind: an unserer lösungsorientierten, kompromissfähigen direkten Demokratie. Publiziert am 29. April 2019 im Journal 21 Verurteilte Jihadisten in der Schweiz sollen in Zukunft in ihr Heimatland ausgewiesen werden, auch dann, wenn ihnen Folter oder Todesstrafe drohen. So wollen es der National- und der Ständerat.
Abgesehen davon, dass Folter und Todesstrafe einer christlichen Kultur unwürdig sind, wird mit diesem Entscheid zwingendes Völkerrecht und die eigene Bundesverfassung verletzt. Das Folterverbot gilt absolut. Der Grund dafür liegt darin, dass Folter in jedem Fall eine Missachtung der unantastbaren Menschwürde bedeutet. Verlust der Vorbildfunktion Wenn das Parlament die Tür des Folterverbots nun einen Spalt weit öffnet, so ist dies dreifach problematisch: Erstens verlieren wir das Vertrauen in unseren Rechtsstaat (wann kommt die nächste Ausnahme?), zweitens verliert die Schweiz damit ihre Vorbildfunktion (Foltern tun auch Schurkenstaaten) und drittens übergeben wir damit auch Menschen der Folter, die wir im Einzelfall gar nicht gemeint haben, beispielsweise einen Jugendlichen, der sich zum Fanatismus verführen liess, oder ein Kind, welches zum Krieg gezwungen wurde. Stolz sind wir auf unsere Schweiz. Unsere direkte Demokratie ermöglicht uns ein Leben in Frieden und Sicherheit. In der Schweiz werden Rechtsstaat und Minderheiten geschützt, Randregionen unterstützt, Bedürftige versorgt und Landessprachen gefördert. Grundstein des humanitären Völkerrechts in Genf Einer der wohl wichtigsten Faktoren für den Erfolg des Chancenlandes Schweiz ist die Tatsache, dass bei uns, konkret in Genf, das humanitäre Völkerrecht seinen Anfang nahm: Der Grundstein zum humanitären Völkerrecht wurde 1864 mit dem ersten Genfer Abkommen gelegt. Unter dem Einfluss der Schlacht von Solferino und deren schweren Verluste schlug der Schweizer Henry Dunant die Erstellung dieses humanitären Abkommens vor. Ein weiterer Vorschlag Dunants’ im Anschluss an Solferino waren die Schaffung des Roten Kreuzes (SRK), beziehungsweise des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Die Rotkreuzbewegung mit dem roten Schweizerkreuz auf weissem Grund fördert seither weltweit die Einhaltung des humanitären Völkerrechts sowie seine Umsetzung in nationales Recht. Gleichzeitig setzt sich das Rote Kreuz weltweit für das Durchsetzen der internationalen Menschenrechte ein: Beide, also das Völkerrecht und die Menschenrechte, verbieten Folter oder unmenschliche Behandlung. Diese Grundsätze gelten für alle. Wie wird der Bundesrat den Vorstoss umsetzen? Auf diesen Grundsätzen aufbauend ist die schweizerische Bundesverfassung seit der Gründung des Bundesstaates Schweiz von 1848 das einigende Band der Schweiz. Wir, also Volk und Stände, haben darin festgehalten: „Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht“. Wir haben ebenfalls darin festgeschrieben, dass das zwingende Völkerrecht – und darunter fallen auch das Folterverbot sowie die Todesstrafe – nicht verletzt werden dürfen. Auch wenn noch völlig unklar ist, wie der Bundesrat den Vorstoss umsetzen soll, ist das Parlament verpflichtet, unsere eigenen Gesetze einzuhalten, ansonsten seine Glaubwürdigkeit und diejenige der Schweiz in Gefahr geraten. Immerhin haben die Mitglieder des Parlaments bei ihrem Amtsantritt ein Gelübde, bzw. einen Eid abgelegt: «Ich schwöre vor Gott dem Allmächtigen, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten meines Amtes gewissenhaft zu erfüllen.» Der Appell des IKRK Bereits im Januar 2018 hat Peter Maurer, Präsident des IKRK in der Neuen Zürcher Zeitung einen Appell an den Schweizer Gesetzgeber gerichtet: Mit dem Problem zurückkehrender Kämpfer von weit entfernten Kriegsschauplätzen seien weltweit nahezu 100 Länder konfrontiert. Die Regierungen hätten berechtigte Sicherheitsbedenken und müssten entscheiden, wie sie vorgehen wollten. Im Namen des IKRK appellierte Maurer an alle, die Personen einschliesslich ausländischer Kombattanten und ihrer Familien festhalten, welche im Zusammenhang mit diesen Kämpfen gefangen genommen wurden, diese Personen human und in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften zu behandeln. Niemand dürfe gefoltert oder standrechtlich hingerichtet werden. Jeder Mensch habe Anspruch auf einen fairen Prozess. Ausnahmen seien nicht vorgesehen. Grundregeln der Menschlichkeit Sämtliche Staaten weltweit müssen auf schwierige, neue Herausforderungen humane und gesetzeskonforme Antworten finden. Die Grundregeln der Menschlichkeit und das humanitäre Völkerrecht, dem wir uns selber verpflichtet haben, geben uns dazu Orientierungshilfen und setzen uns Schranken, die nie überschritten werden dürfen. Oder wie IKRK-Präsident Peter Maurer sagte: „Die Menschheit ist keineswegs zum ersten Mal mit schweren Verbrechen dieser Art konfrontiert, und am besten hat sie reagiert, wenn sie nüchtern Gesetze anwandte.“ Die Menschenwürde muss unantastbar bleiben, für alle. Vor rund 20 Jahren brach im Südosten Europas ein Krieg aus, der einen direkten Einfluss auf die Familie meiner Freundin hatte; nennen wir sie Sabrina.
Ihr Vater war geschäftlich exklusiv mit diesem Land verbunden und verlor innert kurzer Zeit sein gesamtes Geschäftsfeld. Was dann folgte, war für Sabrinas Familie ein eigentliches Drama: Sie Der Vater verlor Arbeit, die Familie Geld, dann die Wohnung, später – und hier wurde es sehr schwierig – einen Grossteil ihres Freundeskreises. Sie musste schmerzlich erfahren, dass beruflicher Niedergang in unserer Gesellschaft auch gesellschaftlichen Ausschluss bedeuten kann. Mit Schulden überhäuft, musste die Familie eine Wohnung finden. Sabrina fing an, für ihre Eltern Bekannte um Geld zu bitten und wurde sich dabei bewusst, dass sie nun zu einer Bettlerin geworden war. Dieses Schlüsselerlebnis beeinflusste Sabrinas gesamtes späteres Leben, es ermöglichte ihr, zu erkennen, dass die Folgen eines Krieges zum Schicksal für jede und jeden von uns werden können, zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort. Menschen erleiden Schicksale und ergreifen die Flucht. Die Flucht – das zentrale Thema der Religionen Das Thema Flucht ist auch bei sämtlichen Weltreligionen das zentrale Thema überhaupt. Sei es die Thora, der Koran, das Alte oder das Neue Testament: Diese Bücher sind voll von Fluchtgeschichten. Abraham ist vor einer Hungersnot nach Ägypten geflohen und Moses nach dem Mord an einem Aufseher des Pharaos nach Midian. Selbst Jesus floh vor Herodes als Säugling in den Armen von Maria nach Ägypten. Diese Flucht des «Christkindes» geschah direkt nach der Geschichte, die wir vor kurzeman Weihnachten gefeiert haben. Sie führte von der Krippe im Stall direkt nach Ägypten in die Fremde. Politik kann sich ihrer Verantwortung nicht entziehen Flucht und Migration sind globale Phänomene, die globale Lösungen brauchen. Es würde der politischen Schweiz gut anstehen, ihre humanitäre Tradition auch im Jahr 2019 weiter zu erhalten, um im internationalen Umfeld eine Führungsrolle zu übernehmen. Es braucht nachhaltige Lösungen wie eine echte «Hilfe vor Ort» oder die Gewährleistung eines ordnungsgemässen Asylverfahrens weltweit. Sabrina arbeitet heute für ein nationales Hilfswerk. Sie gehört zu den zahlreichen Menschen in unserem Land, welche sich tagtäglich für die Interessen für Schutzbedürftige in der Schweiz einsetzen. Zahlreiche Freiwillige aus der Zivilgesellschaft, viele Hilfswerke, etliche Stiftungen, Kirchgemeinden, Kantonalkirchen oder Vereine tun dies seit Jahren in der Schweiz. Diese Arbeit, die meist subsidiär zur staatlichen Hilfe stattfindet, kann nicht genug gewürdigt werden. Sie ist auch dort sichtbar, wo politische Instrumente versagen. Und dennoch, die politische Schweiz wird sich auch 2019 des Themas «Flucht» nicht entziehen können. Publiziert am 31. Dezember 2018 auf "Journal 21". Ausgangslage
Im Dezember wird in Marokko der UNO-Migrationspakt verabschiedet. Er ist die erste Migrationsvereinbarung in der Geschichte der Vereinten Nationen. Der Pakt bzw. die Rolle der Schweiz führte in den vergangenen Wochen zu Diskussionen. Inzwischen hat eine bürgerliche Mehrheit der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates dem Bundesrat empfohlen, den UNO-Migrationspakt am 10./11. Dezember 2018 nicht zu unterschreiben. Der Bundesrat verzichtet nun auf eine Reise nach Marokko. Die Haltung des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) So zentral eine Debatte über nationale Umsetzungsfragen des UNO-Migrationspaktes auch ist: Aus Sicht des SRK darf sie nicht dazu führen, die Vereinbarung als Ganzes in Frage zu stellen. Die Rotkreuzbewegung und das SRK haben sich im Sinne des Rotkreuzgrundsatzes der Menschlichkeit aktiv in die Verhandlungen eingebracht. Folgende Punkte sind aus unserer Sicht zentral:
Der Pakt sieht Migration als ein globales Phänomen, das globale Lösungen braucht. Für die Schweiz bedeutet das aus Sicht des SRK:
Der Migrationspakt nimmt weitere Themen auf, denen das SRK in seiner täglichen Arbeit begegnet. So führt beispielswiese der Klimawandel mit Dürren und Überschwemmungen dazu, dass immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen. Mit unserer Arbeit versuchen wir, die Menschen in der Prävention, aber auch im Umgang mit Katastrophen zu stärken. Migration kann für Familien bedeuten, dass sie den Kontakt zu Angehören verlieren. Wir unterstützen deshalb mit unserem weltweit tätigen Suchdienst für vermisste Angehörige das Anliegen des Paktes, getrennte Familienmitglieder wieder zusammen zu bringen. Warum hätte die Schweiz den UNO-Migrationspakt unterschreiben sollen? Der Pakt definiert erstmalig internationale Spielregeln im Umgang mit Migration und hält grundlegende Elemente wie den Schutz der Menschenrechte unabhängig vom Aufenthaltsstatus fest. Der gemeinsame, lösungsorientierte Rahmen ist ein Meilenstein in der Geschichte und auch für die Schweiz von unmittelbarem Interesse. Entgegen gewissen Behauptungen hat eine Unterzeichnung des UNO-Migrationspaktes durch die Schweiz keinen rechtlich bindenden, sondern lediglich einen empfehlenden Charakter. Die nationale Souveränität und das Recht jedes Staates, seine Migrationspolitik selbst zu regeln, werden im Migrationspakt hervorgehoben. Der Migrationspakt gibt erstmals einen Rahmen vor, der von praktisch allen Herkunftsländern von Migrantinnen und Migranten im Süden unterstützt wird. Er nimmt damit ein wichtiges Anliegen der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung auf, die sich weltweit vernetzt unter Beteiligung der Herkunfts-, Transit- und Zielländer für die Unterstützung von Migrantinnen und Migranten engagiert. Somit ist der Migrationspakt eine Basis für die Stärkung der Zusammenarbeit Süd-Süd und Nord-Süd und auch für allfällige Migrationspartnerschaften der Schweiz. Die Rechte von Migrantinnen und Migranten müssen geschützt werden. Wir fordern Sie deshalb auf: Eine Unterzeichnung des UNO-Migrationspaktes durch die Schweiz wäre wichti. |
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